Tiefe Wunden
gebeten hatte, die Obduktion am nächsten Tag durchzuführen. Und als sie schließlich um kurz nach neun nach Hause gekommen war, hatte sie zu allem Überfluss feststellen müssen, dass die beiden Jährlinge aus der Koppel ausgebrochen waren und sich in den Obstplantagen des benachbarten Elisabethenhofs die unreifen Äpfel schmecken ließen. Nach einer schweißtreibenden Jagd hatte sie gegen elf beide Ausreißer sicher im Stall und war völlig erschöpft ins Haus gewankt. Im Kühlschrank hatte sie nur noch einen abgelaufenen Joghurt und einen halben Camembert gefunden. Der einzige Lichtblick war ein Anruf von Christoph gewesen, bevor sie wie eine Tote ins Bett gefallen war. Und jetzt hatte sie den Beginn der Obduktion verschlafen! Bei einem Blick in den Kleiderschrank stellte sie fest, dass ihr Vorrat an frischer Unterwäsche ziemlich zusammengeschmolzen war, und stopfte noch schnell Sechzig-Grad-Schmutzwäsche in die Waschmaschine. Keine Zeit für ein Frühstück, und die Pferde würden in ihren Boxen bleiben müssen, bis sie aus Frankfurt zurückkam. Pech.
Es war kurz vor zehn, als Pia in der Rechtsmedizin eintraf und wieder die Löblich als Vertreterin der Staatsanwaltschaft antraf. Diesmal trug sie kein schickes Kostüm, sondern Jeans und ein zu großes T-Shirt, das Pia unschwer als eines von Henning identifizierte. Die Folgerung aus dieser Tatsache gab Pias angegriffener Psyche den Rest.
»Dann können wir ja endlich anfangen«, war Hennings einziger Kommentar. Pia fühlte sich urplötzlich fremd in diesem Raum, in dem sie und Henning unzählige gemeinsame Stunden zugebracht hatten. Ihr wurde zum ersten Mal wirklich bewusst, dass sie in seinem Leben nichts mehr verloren hatte. Zwar war sie es, die ihn verlassen hatte, und wenn ernun dasselbe tat wie sie und sich einen neuen Partner suchte, dann hatte sie das zu akzeptieren. Dennoch versetzte es ihr einen Schock, dem sie in ihrem derzeitigen Zustand nicht gewachsen war.
»Entschuldigung«, murmelte sie. »Ich bin gleich wieder da.«
»Bleib hier!«, sagte Henning scharf, aber Pia flüchtete aus dem Sektionsraum ins Nebenzimmer. Dorit, die Laborantin, die extra gekommen war, um die Schnellanalysen durchzuführen, hatte wie üblich Kaffee gekocht. Pia nahm einen Porzellanbecher und goss sich Kaffee ein. Er schmeckte bitter wie Galle. Sie stellte die Tasse ab, schloss die Augen und rieb ihre Schläfen mit den Fingern, um den Druck in ihrem Kopf zu mildern. Selten hatte sie sich so erschöpft und demoralisiert gefühlt wie an diesem Morgen, was auch daran liegen mochte, dass sie ihre Tage bekommen hatte. Zu ihrem Ärger spürte sie, dass Tränen hinter ihren Augenlidern brannten. Wenn doch nur Christoph da gewesen wäre, mit dem sie hätte reden und lachen können! Sie presste die Handballen auf die Augen und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen.
»Alles okay mit dir?« Hennings Stimme ließ sie zusammen zucken. Sie hörte, wie er die Tür hinter sich schloss.
»Ja«, erwiderte sie, ohne sich umzudrehen. »Es war alles nur ... ein bisschen viel in den letzten Tagen.«
»Wir können die Obduktion auf heute Nachmittag verschieben«, bot er an. Damit er mit der Löblich noch mal ins Bett kriechen konnte, während sie alleine herumsaß?
»Nein«, sagte sie schroff. »Es geht schon.«
»Guck mich mal an.« Das klang so mitfühlend, dass ihr die Tränen, die sie fast niedergekämpft hatte, nun doch in die Augen schossen. Sie schüttelte stumm den Kopf wie ein trotziges kleines Kind. Und dann tat Henning etwas, was er in den Jahren, in denen sie verheiratet gewesen waren, nie getanhatte. Er nahm sie einfach in die Arme und hielt sie fest an sich gedrückt. Pia stand stocksteif da. Sie wollte sich vor ihm keine Blöße geben. Schon gar nicht, wenn sie daran dachte, dass er es womöglich seiner Geliebten erzählen würde.
»Ich kann es nicht mit ansehen, wenn du unglücklich bist«, sagte er leise. »Wieso kümmert sich dein Zoodirektor nicht besser um dich?«
»Weil er in Südafrika ist«, murmelte sie und ließ zu, dass er sie an den Schultern nahm, umdrehte und ihr Kinn anhob.
»Augen aufmachen«, kommandierte er. Sie gehorchte und stellte verwundert fest, dass er ernsthaft besorgt aussah.
»Die Fohlen sind gestern Abend abgehauen, Neuville hat sich dabei verletzt. Ich musste sie zwei Stunden durch die Gegend jagen«, flüsterte sie, als sei das die Erklärung für ihren jämmerlichen Zustand. Und dann liefen ihr wirklich die Tränen über das Gesicht.
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