Tiefe Wunden
gefunden worden, bevor Passanten durch Verwesungsgeruch auf sie aufmerksam geworden wären und man den Todeszeitpunkt nur noch mit Hilfe eines Entomologen hätte ermitteln können. Pias Blick wanderte über eine stattliche Anzahl leerer Bier- und Wodkaflaschen neben dem Toten. Daneben lagen ein geöffneter Rucksack, Medikamentenpackungen und ein Stapel Geldscheine. Irgendetwas an dem Bild, das sich ihr bot, störte Pia.
»Wie lange ist er schon tot?«, erkundigte sie sich und streifte Handschuhe über.
»Grob geschätzt etwa vierundzwanzig Stunden«, antwortete der Notarzt. Pia rechnete zurück. Falls das stimmte, konnte Watkowiak ohne weiteres den Mord an Anita Frings begangen haben. Die Kollegen von der Spurensicherung trafen ein, grüßten Pia mit einem Kopfnicken und warteten auf Anweisungen.
»Übrigens ist das Blut an seinem Hemd möglicherweise nicht sein eigenes«, sagte der Notarzt hinter ihr. »Er hat keine äußerliche Verletzung am Körper, soweit ich das im Moment beurteilen kann.«
Pia nickte und versuchte nachzuvollziehen, was hier geschehen war. Watkowiak war irgendwann am vergangenen Nachmittag in das Haus eingedrungen, beladen mit einem Rucksack, sieben Flaschen Bier, drei Flaschen Wodka und einer Einkaufstüte voller Medikamente. Er hatte sich auf den Boden gesetzt, gewaltige Mengen von Bier und Wodka in sich hineingeschüttet und dazu Tabletten genommen. Als die Wirkung von Alkohol und Antidepressiva eingesetzt hatte, hatte er das Bewusstsein verloren. Aber wieso waren seineAugen geöffnet? Weshalb saß er aufrecht an der Wand und war nicht seitlich weggekippt?
Sie bat die Kollegen, für mehr Licht zu sorgen, und ging durch die anderen Räume des Hauses. Im oberen Stockwerk fand sie Anzeichen dafür, dass ein Raum und das angrenzende Badezimmer gelegentlich benutzt worden waren: In der Ecke lag eine Matratze mit schmutzigem Bettzeug auf dem Boden, es gab eine abgewetzte Couch und einen niedrigen Tisch, sogar einen kleinen Fernseher und einen Kühlschrank. Über einem Stuhl hingen Kleidungsstücke, im Badezimmer befanden sich Utensilien zur Körperpflege und Handtücher. Im Erdgeschoss jedoch war alles von einer mehrjährigen Staubschicht bedeckt. Warum hatte sich Watkowiak auf den blanken Fußboden gesetzt, um zu trinken, nicht auf die Couch oben? Plötzlich wusste Pia, was ihr vorhin so eigenartig vorgekommen war: Der Dielenboden des Raumes, in dem die Leiche von Watkowiak lag, war blitzsauber! Watkowiak hatte wohl kaum selbst den Boden gekehrt, bevor er sich zugedröhnt hatte. Als sie zum Fundort der Leiche zurückkehrte, erblickte sie dort eine zierliche rothaarige Frau, die sich neugierig umsah. In ihrem eleganten weißen Leinenkostüm und den hochhackigen Pumps wirkte sie fehl am Platze.
»Dürfte ich erfahren, wer Sie sind und was Sie hier zu suchen haben?«, fragte Pia wenig freundlich. »Das hier ist ein Tatort.«
Aufdringliche Schaulustige konnte sie überhaupt nicht gebrauchen.
»Das ist kaum zu übersehen«, erwiderte die Frau. »Mein Name ist Nicola Engel. Ich bin die Nachfolgerin von Kriminaldirektor Nierhoff.«
Pia starrte sie verblüfft an. Niemand hatte ihr von Nierhoffs Nachfolgerin erzählt.
»Aha«, sagte sie etwas ruppiger, als es eigentlich ihre Art war. »Und weshalb sind Sie hier? Um mir das zu sagen?«
»Um Sie bei Ihrer Arbeit zu unterstützen.« Die Rothaarige lächelte liebenswürdig. »Ich habe zufällig mitbekommen, dass Sie allein auf weiter Flur sind. Und da ich im Moment nichts Besseres zu tun habe, dachte ich, ich schaue mal vorbei.«
»Können Sie sich ausweisen?« Pia blieb misstrauisch. Sie fragte sich, ob Bodenstein über eine Nachfolgerin des Chefs Bescheid wusste oder ob diese Behauptung ein plumper Trick einer dreisten Reporterin war, um eine Leiche live zu sehen. Das Lächeln der Frau blieb unverändert freundlich. Sie griff in ihre Handtasche und präsentierte Pia einen Polizeiausweis. »Kriminalrätin Dr. Nicola Engel«, las Pia, »Polizeipräsidium Aschaffenburg . «
»Wenn Sie zuschauen möchten, habe ich nichts dagegen.« Pia gab ihr den Ausweis zurück und zwang sich zu einem Lächeln. »Ach ja, ich bin Pia Kirchhoff vom K11 der RKI Hofheim. Wir hatten ein paar harte Tage, entschuldigen Sie bitte, dass ich nicht höflicher war.«
»Kein Problem.« Dr. Engel lächelte noch immer. »Machen Sie einfach Ihren Job.«
Pia nickte und wandte sich wieder dem Toten zu. Der Fotograf hatte die Leiche aus allen Winkeln fotografiert, ebenso die
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