Tiefe Wunden
Obduktion von Watkowiak erreichen.«
»Meine Schwiegermutter konnte Goldberg und Schneider nicht besonders leiden«, fuhr Bodenstein fort, ohne beleidigt zu sein. »Sie bezeichnet Goldberg als einen unangenehmen, rücksichtslosen Menschen, nennt ihn einen schmierigen Waffenhändler und Wichtigtuer. Angeblich besaß er mehrere Pässe und konnte selbst während des Kalten Krieges ungehindert in den Ostblock reisen.«
»Da ist sie ja mit Elard Kaltensee einer Meinung.« Pia hatte den Parkplatz vor dem Kommissariat erreicht und stellte den Motor ab. Sie ließ das Fenster ein Stück herunter und zündete sich eine ihrer Notfall-Zigaretten an, von denen sie heute schon zwölf geraucht hatte. »Ich habe übrigens den echten Schneider ausfindig gemacht. Er war Pilot bei der Luftwaffe und ist bei einer Luftschlacht 1944 gefallen. Unser Herrmann Schneider stammte in Wirklichkeit nämlich auch aus Ostpreußen und hieß wahrscheinlich Hans Kallweit.«
»Ist ja interessant.« Bodenstein schien wenig überrascht. »Meine Schwiegermutter ist nämlich fest davon überzeugt, dass die vier sich allesamt von früher kannten. Zu vorgerückter Stunde pflegte Vera ihre Freundin Anita ›Mia‹ zu nennen, außerdem machten sie hin und wieder Bemerkungen über Heimatabende und schwelgten gerne in Erinnerungen.«
»Irgendjemand muss das ebenfalls gewusst haben«, überlegtePia. »Und ich vermute, Elard Kaltensee. Er könnte unser Mörder sein, denn er leidet offenbar sehr darunter, nichts über seine Herkunft zu wissen. Vielleicht hat er die drei Freunde seiner Mutter aus Wut darüber, dass sie ihm nichts gesagt haben, erschossen.«
»Das erscheint mir doch etwas sehr konstruiert«, sagte Bodenstein. »Anita Frings lebte in der DDR. Laut meiner Schwiegermutter waren sie und ihr Mann beide beim Ministerium für Staatssicherheit, Herr Frings sogar in einer ziemlich bedeutenden Position. Und entgegen den Behauptungen der Direktorin vom Taunusblick hatte sie einen Sohn.«
»Vielleicht ist der schon tot«, mutmaßte Pia. Ihr Handy meldete sich mit der Anklopffunktion. Sie warf einen raschen Blick darauf: Miriam.
»Ich kriege gerade einen Anruf«, sagte sie zu ihrem Chef. »Aus Südafrika?«
»Wie bitte?« Pia war für einen Moment perplex.
»Ist Ihr Zoodirektor nicht in Südafrika?«
»Wie kommen Sie denn darauf?«
»Ist er’s?«
»Ja. Aber er war’s nicht, der eben versucht hat, mich zu erreichen.« Pia war nicht besonders erstaunt darüber, dass ihr Chef schon wieder bestens informiert zu sein schien.
»Das war meine Freundin Miriam aus Polen. Sie sitzt im Stadtarchiv von Wegorzewo, dem ehemaligen Angerburg, und sucht nach Spuren des echten Goldberg und auch des echten Schneider. Vielleicht hat sie etwas gefunden.«
»Was hat Ihre Freundin mit Goldberg zu tun?«, wollte Bodenstein wissen. Pia klärte ihn über die Zusammenhänge auf. Dann versprach sie ihm, zur Obduktion von Watkowiak zu gehen, falls diese schon am nächsten Tag stattfinden sollte, und beendete das Gespräch, um Miriam zurückzurufen.
Sonntag, 6. Mai 2007
Das Klingeln des Telefons neben ihrem Bett schreckte Pia aus dem Tiefschlaf. Es war stockdunkel und stickig im Zimmer. Sie drückte verwirrt auf den Schalter der Nachttischlampe und griff nach dem Hörer.
»Wo bleibst du?«, tönte die gereizte Stimme ihres Exmannes dicht an ihrem Ohr. »Wir warten hier auf dich! Du warst es schließlich, die es so eilig hatte mit der Sektion.«
»Henning, mein Gott«, murmelte Pia. »Es ist mitten in der Nacht!«
»Es ist Viertel nach neun«, berichtigte er sie. »Beeil dich gefälligst.«
Und schon hatte er aufgelegt. Pia kniff die Augen zusammen und blickte auf den Wecker. Tatsächlich! Viertel nach neun! Sie warf die Bettdecke zurück, sprang auf und taumelte zum Fenster. Gestern Nacht musste sie die Rollläden versehentlich ganz heruntergelassen haben, deshalb war es im Schlafzimmer so dunkel wie in einem Sarg. Eine schnelle Dusche weckte ihre Lebensgeister, dennoch fühlte sie sich, als sei sie von einem Bus überfahren worden.
Der Staatsanwalt hatte die Genehmigung für eine rasche Obduktion der Leiche von Robert Watkowiak erteilt, nachdem Pia ihn mehr oder weniger dazu genötigt hatte. Als Argument hatte sie angeführt, dass sich die Medikamente, mit denen sich der Mann absichtlich oder unabsichtlich dasLeben genommen hatte, abbauen und nicht mehr nachweisbar sein könnten, wenn man zu lange warte. Henning hatte säuerlich reagiert, als Pia ihn angerufen und
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