Tiefe Wunden
Henning zog sie in seine Arme und streichelte tröstend ihren Rücken.
»Deine Freundin wird sicher sauer sein, wenn sie uns so sieht«, sagte sie dumpf in den Stoff seines grünen Kittels.
»Sie ist nicht meine Freundin«, antwortete er. »Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?«
»Ich hab kein Recht dazu. Ich weiß. Aber trotzdem.«
Er schwieg einen Moment, und als er weitersprach, klang seine Stimme verändert.
»Weißt du was«, sagte er leise, »wir bringen das jetzt hier hinter uns, dann gehen wir beide ordentlich frühstücken. Und wenn du willst, komme ich mit auf den Birkenhof und schaue nach Neuville.«
Dieses Angebot war rein freundschaftlich gemeint, kein plumper Annäherungsversuch. Henning war im letzten Jahr bei der Geburt des Fohlens dabei gewesen und ein Pferdeliebhaber wie sie selbst. Die Aussicht, den Tag nicht allein verbringen zu müssen, war verlockend, dennoch widerstandPia der Versuchung. In Wirklichkeit wollte sie Hennings Mitgefühl gar nicht, und es wäre unfair, ihm Hoffnungen zu machen, nur weil sie sich beschissen und einsam fühlte. Das hatte er nicht verdient. Sie atmete tief durch, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
»Danke, Henning«, sagte sie und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. »Das ist sehr lieb von dir. Ich bin froh, dass wir uns immer noch so gut verstehen. Aber ich muss später noch ins Büro.«
Das stimmte zwar nicht, klang aber nicht so sehr nach Zurückweisung.
»Okay.« Henning ließ sie los. In seinen Augen lag ein schwer zu deutender Ausdruck. »Dann trink erst mal in Ruhe deinen Kaffee. Lass dir Zeit. Ich warte auf dich.«
Pia nickte und fragte sich, ob er sich wohl der Doppeldeutigkeit seiner Worte bewusst war.
Montag, 1. Mai 2001
»Robert Watkowiak wurde ermordet«, verkündete Pia bei der morgendlichen Besprechung im K11 ihren Kollegen. »Die Einnahme von Alkohol und Tabletten erfolgte nicht freiwillig.«
Vor ihr lag das vorläufige Obduktionsergebnis, das nicht nur sie gestern ziemlich überrascht hatte. Die Schnellanalyse von Blut und Urin des Toten hatte eine hochgradige Intoxikation ergeben. Todesursächlich war zweifellos die hohe Konzentration der trizyklischen Antidepressiva in Kombination mit einem Blutalkoholgehalt von 3,9 Promille, die zu einem Atem- und Kreislaufstillstand und somit zum Tode geführt hatte. Allerdings hatte Henning am Kopf, an den Schultern und Handgelenken der Leiche Blutergüsse und Unterblutungen festgestellt und vermutet, man habe Watkowiak festgehalten und gefesselt. Feine, unterblutete Längsrisse im Gewebe der Speiseröhre und Spuren von Vaseline hatten seinen Verdacht erhärtet, dass man dem Mann den tödlichen Cocktail gewaltsam mittels eines Tubus verabreicht hatte. Weitere Proben wurden im kriminaltechnischen Labor in Wiesbaden untersucht, aber Henning hatte eindeutig auf Tod durch Fremdverschulden erkannt.
»Außerdem war der Fundort nicht der Tatort.« Sie reichte die Fotos herum, die die Kollegen von der Spurensicherung aufgenommen hatten. »Jemand war so clever, den Fußbodensauberzumachen, um keine Spuren zu hinterlassen. Allerdings nicht clever genug, denn das ist demjenigen wohl erst eingefallen, nachdem er Watkowiak abgelegt hatte. Seine Kleidung war voller Staub.«
»Damit haben wir einen fünften Mord«, stellte Bodenstein fest.
»Und fangen wieder bei null an«, ergänzte Pia deprimiert. Sie fühlte sich wie gerädert. Die Alpträume der vergangenen Nacht, in denen Elard Kaltensee und eine 08 eine beängstigende Rolle gespielt hatten, steckten ihr noch immer in den Knochen. »Falls wir überhaupt schon mal weiter waren.«
Sie waren sich einig, dass der Mörder von Goldberg, Schneider und Frings ein anderer war als der, der Monika Krämer getötet hatte. Aber zu Pias Enttäuschung hatte sich niemand aus dem Team ihrem Verdacht, Elard Kaltensee könnte der dreifache Mörder sein, anschließen wollen. Sie musste zugeben, dass ihre Begründungen, die sie am Samstag noch für absolut schlüssig gehalten hatte, ziemlich weit hergeholt klangen.
»Es ist doch eindeutig«, sagte Behnke. Er war pünktlich um sieben Uhr eingetroffen und saß nun mürrisch und mit verquollenen Augen am Tisch im Besprechungsraum. »Watkowiak hat die drei Alten erschossen, um an Geld zu kommen. Das hat er der Krämer erzählt. Als sie gedroht hat, es auszuplaudern, hat er sie umgebracht.«
»Und weiter?«, fragte Pia. »Wer hat ihn getötet?«
»Keine Ahnung«, gab Behnke griesgrämig zu. Bodenstein erhob
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