Tiefe Wunden
oder Konsequenzen aus einer ganz anderen Richtung? Immerhin hatte er die Einmischung undVertuschung im Fall Goldberg nur zu bereitwillig akzeptiert, nicht ahnend, dass diesem Mord noch zwei weitere, sehr ähnliche, folgen würden.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Bodenstein. »Sie waren es, der mit den Journalisten gesprochen hat.«
Nierhoff schnappte nach Luft.
»Ich habe der Presse etwas völlig anderes mitgeteilt«, zischte er. »Und zwar etwas Falsches! Ich hatte mich auf Sie verlassen!«
Bodenstein warf Nicola Engel einen raschen Blick zu und wunderte sich nicht, dass sie ziemlich zufrieden aussah. Wahrscheinlich steckte sie doch dahinter.
»Sie hatten mir nicht zugehört«, entgegnete Bodenstein seinem Chef. »Ich war gegen diese Pressekonferenz, aber Sie waren ja ganz wild darauf, die Fälle geklärt zu sehen!«
Nierhoff grabschte nach der Zeitung. Er war krebsrot im Gesicht.
»Das hätte ich Ihnen nicht zugetraut, Bodenstein«, stieß er hervor und wedelte mit der Zeitung vor dessen Gesicht herum. »Ich werde dort in der Redaktion anrufen und herausfinden, woher die Informationen gekommen sind. Und wenn Sie oder Ihre Leute dahinterstecken, Bodenstein, dann machen Sie sich auf ein Disziplinarverfahren und Ihre Suspendierung gefasst!«
Er ließ seine Amtsnachfolgerin stehen und verschwand mitsamt Zeitung. Bodenstein zitterte am ganzen Körper vor Zorn. Viel mehr als der Zeitungsartikel ärgerte ihn Nierhoffs ungerechtfertigte Unterstellung, er habe ihn hintergangen, um ihn in der Öffentlichkeit bloßzustellen.
»Was nun?«, fragte Nicola Engel. Bodenstein empfand ihre mitfühlend gestellte Frage als Gipfel der Heuchelei. Für einen Augenblick war er versucht, sie aus seinem Büro zu werfen.
»Wenn du denkst, du kannst auf diese Weise meine Ermittlungenbehindern«, sagte er mit mühsam gesenkter Stimme, »dann versichere ich dir, dass dieser Schuss nach hinten losgehen wird.«
»Was willst du damit andeuten?« Nicola Engel lächelte harmlos.
»Dass du diese Informationen an die Presse lanciert hast«, erwiderte er. »Ich erinnere mich nämlich noch sehr gut an einen anderen Fall, in dem die voreilige Benachrichtigung der Presse dazu geführt hat, dass einer unserer Leute enttarnt und ermordet wurde.«
Er bereute die Anschuldigung in dem Moment, in dem er sie ausgesprochen hatte. Damals hatte es kein Disziplinarverfahren, keine interne Untersuchung und noch nicht einmal eine Aktennotiz gegeben. Aber Nicola war über Nacht von dem Fall abgezogen worden, und das war für Bodenstein Bestätigung genug gewesen. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde frostig.
»Pass auf, was du sagst«, entgegnete sie leise. Bodenstein war bewusst, dass er sich auf gefährliches Terrain begab, aber er war zu aufgebracht und zu wütend, um vernünftig zu sein. Außerdem hatte ihm diese Sache schon viel zu lange auf der Seele gebrannt.
»Ich lasse mich von dir nicht einschüchtern, Nicola.« Er blickte aus der vollen Höhe seiner einsachtundachtzig auf sie hinunter. »Und ich dulde auch nicht, dass du meine Mitarbeiter ohne Rücksprache mit mir bei ihrer Arbeit überwachst. Ich weiß besser als jeder andere, wozu du fähig bist, wenn du ein Ziel erreichen willst. Vergiss nicht, wie lange wir uns schon kennen.«
Unerwartet wich sie vor ihm zurück. Ganz plötzlich spürte er, wie sich das Kräfteverhältnis zu seinen Gunsten neigte, und offensichtlich hatte sie es auch bemerkt. Sie wandte sich ruckartig ab und verließ wortlos sein Büro.
Nowaks Großmutter erhob sich von dem Plastikstuhl im Wartebereich der Station, als Pia durch die Milchglastür kam. Sie mochte etwa im gleichen Alter wie Vera Kaltensee sein – aber welch ein Unterschied zwischen der gepflegten, vornehmen Dame und dieser vierschrötigen Frau mit kurzgeschnittenem eisgrauen Haar und abgearbeiteten Händen, die deutliche Spuren von Arthritis zeigten. Zweifellos hatte Auguste Nowak in ihrem langen Leben einiges erlebt und mitgemacht.
»Setzen wir uns einen Moment.« Pia wies auf eine Sitzgruppe am Fenster. »Danke, dass Sie gewartet haben.«
»Ich kann den Jungen doch nicht alleine lassen«, erwiderte die alte Frau. Auf ihrem runzligen Gesicht lag ein besorgter Ausdruck. Pia bat sie um ein paar Angaben zu ihrer Person und machte sich Notizen. Es war Auguste Nowak gewesen, die in der Nacht die Polizei gerufen hatte. Ihr Schlafzimmer ging zum Hof, wo sich Werkstatt und Büro der Firma ihres Enkelsohnes befanden. Gegen zwei Uhr morgens hatte sie
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