Tiefe Wunden
bestätigte jede seiner Behauptungen. Seine Frau wirkte verhärmt und älter, als sie sein mochte. Sie vermied jeden Blickkontakt und hielt den schmalspurigen Mund fest zusammengepresst. Die Brüder von Marcus Nowak waren etwa Anfang vierzig, beide schwerfällig, etwas linkisch und inphysischer Hinsicht genaue Abbilder ihres Vaters, allerdings ohne dessen Selbstbewusstsein. Der Ältere, der die wässrigen Augen eines Trinkers hatte, lebte mit seiner Familie ebenfalls in dem großen Haus neben dem Firmengelände, der andere zwei Häuser weiter. Weshalb sie um diese Uhrzeit an einem Montagmorgen zu Hause und nicht bei der Arbeit waren, wusste Pia nun. Keiner von ihnen wollte etwas von den nächtlichen Vorgängen mitbekommen haben, alle Schlafzimmer gingen angeblich nach hinten, zum Waldrand. Erst als Notarzt und Polizei gekommen waren, hatte man bemerkt, dass etwas geschehen sein musste. Im Gegensatz zu Auguste Nowak hatte ihr Sohn sofort mehrere Verdächtige bei der Hand. Pia notierte zwar die Namen eines beleidigten Kneipenwirts und eines gekündigten Mitarbeiters, aber es erschien ihr überflüssig, sie zu überprüfen. Wie die Ärztin im Krankenhaus bemerkt hatte: Der Überfall auf Marcus Nowak war professionelle Arbeit gewesen. Pia dankte der Familie für ihre Unterstützung und ging wieder hinüber in Nowaks Büro, wo gerade die Kollegen der Spurensicherung mit ihrer Arbeit begonnen hatten. Die Worte von Auguste Nowak kamen ihr in den Sinn. Neid musst du dir erarbeiten, Mitleid bekommst du umsonst. Wie wahr.
Bei ihrer Rückkehr ins Kommissariat zwei Stunden später bemerkte Pia sofort, dass etwas vorgefallen sein musste. Ihre Kollegen saßen mit angespannten Mienen an ihren Schreibtischen und blickten kaum auf.
»Ist etwas passiert?«, fragte Pia. Ostermann klärte sie in knappen Worten über den Zeitungsartikel und Bodensteins Reaktion auf. Der Chef hatte nach einem heftigen Wortwechsel mit Nierhoff hinter geschlossenen Türen einen für ihn völlig untypischen Wutanfall bekommen und einen nach dem anderen verdächtigt, Informationen an die Presse herausgegeben zu haben.
»Von uns war’s sicher keiner«, sagte Ostermann. »Auf deinem Schreibtisch liegt übrigens das Protokoll von einer Frau Nowak. Die war gerade eben hier.«
»Danke.« Pia stellte ihre Tasche auf dem Schreibtisch ab und warf einen kurzen Blick auf das Protokoll, das der KPD aufgenommen hatte. Außerdem klebte ein gelber Zettel auf ihrem Telefon mit dem Hinweis »Dringend zurückrufen!«. Eine Telefonnummer mit der Vorwahl 0048 für Polen. Miriam. Beides musste bis später warten. Sie ging zu Bodensteins Büro. Gerade als sie anklopfen wollte, wurde die Tür aufgerissen, und Behnke stürmte mit wachsbleichem Gesicht an ihr vorbei. Pia betrat das Büro ihres Chefs.
»Was ist denn mit dem los?«, fragte sie. Bodenstein antwortete nicht. Er sah auch nicht unbedingt gutgelaunt aus. »Was war im Krankenhaus?«, wollte er wissen.
»Marcus Nowak, Restaurator aus Fischbach«, erwiderte Pia. »Er wurde gestern Nacht in seinem Büro von drei Männern überfallen und gefoltert. Leider sagt er keinen Ton, und von seiner Familie scheint niemand einen blassen Schimmer zu haben, wer oder was hinter diesem Überfall stecken könnte.«
»Geben Sie die Sache an die Kollegen vom K10 weiter.« Bodenstein kramte in einer Schublade seines Schreibtisches. »Wir haben genug zu tun.«
»Moment«, sagte Pia. »Ich bin noch nicht fertig. In Nowaks Büro haben wir eine Ladung von den Kelkheimer Kollegen gefunden. Er wird der fahrlässigen Körperverletzung zum Nachteil von Vera Kaltensee beschuldigt.«
Bodenstein hielt inne und blickte auf. Sein Interesse war schlagartig geweckt.
»Von Nowaks Telefon aus wurde in den vergangenen Tagen mindestens dreißigmal die Nummer von Kaltensees Anschluss auf dem Mühlenhof gewählt. Gestern Nacht hater fast eine halbe Stunde lang mit unserem Freund Elard telefoniert. Es mag Zufall sein, aber irgendwie finde ich es schon eigenartig, dass wieder der Name Kaltensee auftaucht.«
»Allerdings.« Bodenstein rieb sich nachdenklich das Kinn.
»Erinnern Sie sich, dass man uns die Anwesenheit des Werkschutzes auf dem Anwesen mit einem Einbruchsversuch erklärt hat?«, fragte Pia. »Vielleicht steckte Nowak dahinter.«
»Wir gehen der Sache auf den Grund.« Bodenstein griff nach dem Telefon und tippte eine Nummer ein. »Ich habe eine Idee.«
Eine gute Stunde später bremste Bodenstein vor dem Tor des Anwesens von Gräfin
Weitere Kostenlose Bücher