Tiefer Schmerz
trat das Gaspedal durch bis zum Anschlag.
Es ging bemerkenswert glatt bis zum Stureplan, wo er in ein beinah obligatorisches Gerangel mit rücksichtslosen Fahrern von Reklamefirmen geriet, die auf ihrem Recht bestanden, auch wenn sie noch so sehr im Unrecht waren. Paul Hjelm war es egal. Laß sie doch, dachte er und lallte die Schlußsequenz des langen Solos der Zirkelkomposition ›Blue in Green‹ mit. Und auch im Wirrwarr unten am Nybroplan behielt er kühlen Kopf. Gerade als er bei offenem Seitenfenster eine Lieblingsphrase aus ›All Blues‹ grölte, sah er Ingmar Bergman mit Stock und allem ins ›Dramaten‹ tapern. Nicht ohne eine gewisse Verblüffung wandte der Alte sich um, und für einen Moment begegneten sich ihre Blicke. Es war sagenhaft.
Strandvägen war schlimmer. Es sah ungeheuer dicht aus.
Nein, dachte er. Jetzt war das Bild komplett. Eine schnelle, kurze Strecke freie Fahrt, und dann wieder das langsame, zähe, ruckhafte Vorwärtskommen. Schleppend.
Es lockerte sich ein wenig, und über Djurgårdsbron ging es richtig gut. Da hatte das Bild sich bereits in Luft aufgelöst. Gerade als er heillos vorschriftswidrig vor dem Eingang von Skansen parkte, verklangen die spanisch beeinflußten letzten Harmonien von ›Flamenco Sketches‹. Da rede noch einer von Präzision. Der Weg von Astrid Lindgren via Ingmar Bergman nach Skansen – wie eine Reise ins Herz Schwedens – war genauso lang wie Kind of Blue mit Miles Davis. Soviel dazu. Auf die Sekunde drei Viertel Stunden.
Es war also Viertel vor zehn, als Paul Hjelm durch die Tore von Skansen einzog, versehen mit einer kleinen Karte und dem Hinweis, sich zu den ›wilden Tieren‹ in der Nordostecke des großen Freilichtmuseums zu begeben. Während er auf der langen, überdachten Rolltreppe, die den Berg hinaufführte, nach oben glitt, überlegte er, welche Tiere nicht wild waren. War zum Beispiel der Mensch ein wildes Tier? Oben angekommen, trat er in ein ganz anderes Wetter hinaus als das, das er unten zurückgelassen hatte. Alle Winterwinde waren wie fortgeblasen, statt dessen wanderte er im denkbar höchsten Hochsommer durch die artifizielle Stadt des neunzehnten Jahrhunderts. Aprilwetter, hätte er fast gesagt, aber es war ja tatsächlich schon Mai. Donnerstag, der vierte Mai im Jahr des Herrn zwanzighundert. Oder zweitausend. Während die Sonne von den faluroten Wänden zurückgeworfen wurde, dachte er über die Konjunkturschwankungen in der Bezeichnung des Jahres 2000 nach. Zunächst war es selbstverständlich gewesen, vom ›Jahr zweitausend‹ zu sprechen, dann – nach der massiven Propagandakampagne einer unbekannten Sprachreinigungsinstanz – wurde es ebenso selbstverständlich, ›das Jahr zwanzighundert‹ zu sagen, auch wenn dies häufig mit einer gewissen Selbstüberwindung geschah. Und obwohl die offizielle Zwanzighundert-Version festlag, hörte man inzwischen oft, daß das eher dubiose Zweitausend benutzt wurde, hinter vorgehaltener Hand, als gehörte man dadurch zu einer unterirdischen Widerstandsbewegung. Widerstand aus dem Volk. Er selbst verfolgte eine Sowohl-als-auch-Linie. Sie erweckte allgemein Abneigung und orientierte sich am Verstakt. ›Zwanzighundert‹ waren zwei aufeinanderfolgende Trochäen, nach dem Schema, , während ›zweitausend‹ das rhythmisch unreine war, also zwei einleitende betonte Silben, denen eine unbetonte folgte. Da es weder für das erste noch für das zweite irgendwelche akzeptablen Argumente gab, ließ er den sprachrhythmischen Zusammen-hang ausschlaggebend sein. Der Kampf zwischen den beiden Bezeichnungsvarianten war in Paul Hjelms Augen ein ganz und gar nacktes Zeitbild: der Wille zur Macht in seiner reinsten Form. Man wollte recht haben, man wollte gewinnen, und weder die nahezu nichtexistente Bedeutung der Frage noch der Mangel an Argumenten spielte irgendeine Rolle. Und die Widersacher waren sich in genau dem Punkt einig: Das Unentschiedene war der schlimmste Feind. Paul Hjelm war durch und durch überzeugt davon, daß seine eigene Position die eigentliche Widerstandsbewegung vertrat.
Daran also dachte der Kriminalinspektor in diesem Jahr des Herrn, in dem Schweden von Amnesty wegen gravierend zunehmender Polizeigewalt angeprangert wurde: Polizisten, hieß es, drehten regelmäßig die Gummiknüppel um, so daß sie mit der harten Seite schlugen, und Kosovo-Albaner wurden mit fünftausend edelschwedischen Kronen in der Tasche in ihre verwüsteten Heimatdörfer zurückgeschickt.
Einen kurzen
Weitere Kostenlose Bücher