Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
Vom Netzwerk:
Augenblick war ihm so, als hätte irgend jemand sich sein gesamtes Denkmuster angeeignet.
    Er fragte sich, wohin all die guten alten sexuellen Phantasien verschwunden waren, die einem, neuesten Forschungen zufolge, mindestens fünfzehnmal am Tag kommen sollten.
    Und eine letzte Frage fuhr ihm noch durch den Sinn, bevor er die Raubtiere witterte: Wer zum Teufel war dieser exemplarische Mensch, der fünfzehn sexuelle Phantasien am Tag schaffte? Dann nahm die Witterung überhand, und Paul Hjelm spürte eine echte Erwartung: wie ein Kind, wenn der Auftritt des Weihnachtsmanns unmittelbar bevorsteht, in dem Augenblick, in dem Papa sich mit einer Miene eindeutig vorgetäuschter Ausdruckslosigkeit auf die Toilette schleicht. Und der Weihnachtsmann hieß etwas so Komisches wie Jorge Chavez und war etwas so Hölzernes wie Kriminalinspektor beim Reichskriminalamt.
    Genau wie er selbst.
    Danach verschwand die Witterung ebenso plötzlich, wie sie gekommen war. Paul Hjelm war nämlich dabei, sich zu verirren. Später sollte er jede Kenntnis besagten Vorkommnisses leugnen, aber Tatsache war, daß er sich in Skansen verirrte. Seine Kinder gingen auf die Zwanzig zu, und es war eine gehörig lange Zeit her, seit sie sich nicht mehr von dem billigen Skansentrick täuschen ließen, zu dem man greift, wenn einem alle anderen Ideen ausgegangen sind. Inzwischen waren die Wildtiergehege in dem großen Freilichtmuseum umgebaut worden, und er fand sich unversehens im Gespräch mit einem unendlich träge wiederkäuenden Elchbullen, der wie ausgestopft und aufgezogen wirkte. Jemand anderes, um ein Gespräch zu führen, war nämlich nicht zu sehen. Es ging auf zehn Uhr zu, und vermutlich war Skansen ganz einfach geschlossen. Es war kein einziger Mensch in der Nähe, und der dusselige Elch hatte wenig zu sagen.
    Vor allem schien er in totaler Unkenntnis darüber zu sein, wo sich die mörderischen Marder aufhalten konnten.
    Schließlich landete Hjelm am Bärenfelsen, für ihn unbekanntes Territorium. Alles war mächtig aufgerüstet, und er verließ die labyrinthischen Konstruktionen mit dem Gefühl, einem ausgeworfenen Garnknäuel gefolgt zu sein. Er kam bei den Pferden und Luchsen und Wildschweinen und Wölfen vorbei, und plötzlich war er da.
    Bei den Vielfraßen.
    Dort waren um so mehr Menschen in Aktion. Er erkannte sogleich die weißgekleideten Kriminaltechniker, die wie Bergsteiger im Anfängerkurs die kleinen Hügel im Inneren des Territoriums der Vielfraße auf und ab rutschten. Er erkannte das rot-weiße Plastikband, das kreuz und quer vor dem Schutzzaun ausgespannt war und ›Polizei‹ schrie. Er erkannte ein ziemlich moosbewachsenes Gesicht um die Achtzig, das dem Chefobduzenten Sigvard Qvar fordt gehörte. Er erkannte ein stramm germanisches Gesicht, das zum Chefkriminaltechniker Brynolf Svenhagen gehörte. Und er erkannte ein überaus energisches dunkelhäutiges Gesicht, das einem engen Kollegen gehörte – der außerdem der Schwiegersohn des Chefkriminaltechnikers Svenhagen war. Sein Name war Jorge Chavez.
    Chavez erblickte Hjelm, sein Gesicht hellte sich auf, er näherte sich dem tiefen Graben, der den inneren Teil des Vielfraßgeheges vom äußeren trennte, breitete die Arme aus und rief, als habe er es eingeübt (was vermutlich der Fall war): »Wirf ab deine menschliche Hülle, o Krone der Schöpfung, und tritt ein in unsere animalische Orgie.«
    Paul Hjelm seufzte und sagte: »Wie denn, verdammt?«
    Jorge Chavez hob verwundert die Augenbrauen und blickte sich um. Schließlich wandte er sich an Brynolf Svenhagen, der vor allem hin und her zu wandern schien und stramm aussah. Als sei das eine Lebensaufgabe.
    »Hast du die Laufplanke geklaut, Brunte?«
    Brynolf Svenhagen betrachtete seinen Schwiegersohn mit tief empfundener Abneigung und sagte, wenig aufschlußreich: »Ich heiße nicht Brunte.«
    Woraufhin er weiter wanderte und stramm aussah.
    Chavez kratzte sich den Kopf. »Wahrscheinlich haben die Pornopolizisten sie beiseite gebracht«, sagte er. »Gleich lassen sie auch noch die Vielfraße rein.«
    Paul Hjelm kletterte auf den schlanken Holzzaun, balancierte einen Augenblick und tat anschließend einen gewagten Sprung ins Nichts. Wie eine Ballerina schwebte er über dem wassergefüllten tiefen Graben und landete geschmeidig auf dem Trockenen neben seinem Kollegen. Es war sehr überraschend.
    »Grazil«, sagte Chavez anerkennend.
    »Danke«, sagte Hjelm, selbst noch tief verwundert darüber, daß er nicht rücklings in den

Weitere Kostenlose Bücher