Tiefer Schmerz
eigentümliche Nachnamen in eine Rangfolge zu sortieren. War nicht Altbratt ein Spitzenkandidat? Früher war er auf Größen wie Kungskranz und Riddarsson, Äppelblohm und Markander gestoßen, aber hatten die gegen Altbratt wirklich eine Chance?
Anton Altbratt war der wohlhabende Besitzer eines Pelzgeschäfts auf Östermalm, wohnhaft in Djurgårdsstaden, in zweiter Ehe lebend, deren Frucht die zehnjährige Lisa war. Er hatte natürlich ein paar erwachsene Kinder aus erster Ehe, und die neue Ehefrau, Lisas Mutter, war nicht zu erreichen gewesen. Sie befand sich auf Geschäftsreise an unbekanntem Ort. Hjelm bekam den Eindruck eines verwickelten erotischen Arrangements, beschloß jedoch, nicht nachzufragen.
Was konnte hinter dem Schuß auf die arme kleine Lisa stecken? Es war zu hoffen, daß es Papa Anton war, auf den es der Schütze abgesehen hatte. In dem Fall wäre es etwas einfacher, sich rationale Motive vorzustellen – die junge Ehefrau, die auf die Oberklasse zugeschnittene Geschäftstätigkeit, vielleicht sogar ein Angriff militanter Tierschützer auf einen Pelzhändler. Obwohl die Lautlosigkeit auf einen Schalldämpfer und damit auf eine Form von professioneller Kriminalität schließen ließ – also eher die Ehefrau, die aus finanziellen oder sexuellen Gründen den Gatten aus dem Weg räumen wollte, oder lichtscheue Geschäftsverbindungen, vielleicht illegaler Pelzhandel. Oder etwas in der Art. Dann war es nicht so bedrohlich. Ein geplanter, aber mißglückter einmaliger Angriff. War dagegen Lisa das auserwählte Opfer, sah es schlechter aus. Dann verflüchtigten sich die meisten rationalen Motive, und ein Wahnsinniger vom Typ Laser-Mann wirkte wahrscheinlicher. Allerdings mit Kindern als Spezialität.
Den Gedanken wollte Paul Hjelm lieber nicht zu Ende denken.
Natürlich gab es noch eine dritte Möglichkeit: daß weder der Vater noch die Tochter als Opfer ausersehen waren, sondern daß die Kugel aus schierem Zufall den Weg in Lisas Arm gefunden hatte. Für den Fall lag es nahe, von einer Abrechnung in der Unterwelt auszugehen, und die hatte sich irgendwo zwischen den Bäumen von Djurgården abgespielt.
Es gab also einiges, was man tun konnte. Die Aktivitäten der Ehefrau am gestrigen Abend überprüfen, herausfinden, wie die Ehe eigentlich aussah, nachprüfen, wer von dem Kinderfest oben in Rosendal wußte, die Führung der Geschäfte auf Unregelmäßigkeiten abklopfen, eventuelle Drohungen militanter Tierschützer oder ähnlicher Gruppen überprüfen, das Waldgelände, aus dem der Schuß mit großer Wahrscheinlichkeit abgefeuert wurde, durchsuchen. Und so weiter.
Sowie abwarten und sehen, ob es reiner Zufall war, daß zwei Verbrechen so nah beieinander begangen worden waren – je nach dem, was Jorge nun oben in Skansen zu bieten hatte.
Zeit Zeit Zeit. Er saß wirklich fest. Die Motortemperatur des Audis stieg wie gewöhnlich bei der geringsten Andeutung eines Staus drastisch an. Es war ein Wagen ohne die geringste Geduld. Da der Fahrer sich weigerte, aufzubegehren, mußte es statt dessen der Wagen tun. Als ob jedes in der Schlange stehende Fahrzeug per definitionem gezwungen wäre zu explodieren. Paul Hjelm stellte Gebläse und Heizung auf Maximum und dankte seinem Schöpfer, daß in Stockholm eher winterliche Kälte als sommerliche Hitze herrschte. Mit einem Auge auf der Anzeige der Motortemperatur ließ er seinen Gedanken freien Lauf – in der Begleitung von Miles Davis’ und John Coltranes und Bill Evans’ und Cannonball Adderleys und Wynton Kellys und Paul Chambers und Jimmy Cobbs unübertroffenen Improvisationen.
Ein Bild seines Lebens kam ihm plötzlich in den Sinn.
Ein eiskalt kontrollierendes Auge auf einen Motor, der kurz davor ist, zu explodieren. Gedankenbahnen in Form waghalsiger Improvisationen. Während sich der Wagen gleichzeitig äußerst langsam vorwärts bewegt.
Doch, genau so war es. Obwohl irgend etwas fehlte, um das Bild komplett zu machen.
Gerade als ›So What‹ in ›Freddie Freeloader‹ überging und ein geläufigerer Zwölftaktblues sich in die als Auto verkleidete Sauna ergoß, offenbarte sich auf dem rechten Fahrstreifen bei Roslagstull eine Lücke. Er schoß hinein, gab Gas, daß die Reifen quietschten, schaffte es noch bei dem neuen, europäisch vollgelben Ampellicht über die Kreuzung und sah plötzlich die gesamte Birger Jarlsgata leer vor sich liegen.
Doch, dachte er, jetzt stimmt es, jetzt ist das Bild komplett.
›Freddie Freeloader‹, dachte er und
Weitere Kostenlose Bücher