Tiefer Schmerz
Freihafen befaßt. Dort hat also Peltonens Schwarztaxi irgendwann nach sieben am Abend des siebten September 1981 unseren naseweisen Freund aufgenommen. Es war nicht einfach, die alten Hafenarchive aufzutreiben. Jetzt haben wir es aber geschafft, glaube ich. Eine ansehnliche Anzahl Schiffe ist an dem fraglichen Tag eingelaufen. Wenn wir aber davon ausgehen, daß es stimmt, wie Peltonen sagt, daß die Fahrt kurz nach sieben Uhr am Abend stattfand, dann können wir den fraglichen Zeitraum ein wenig enger fassen. Vielleicht können wir annehmen, daß der Mann ohne Nase, also der spätere Shtayf auf dem Südfriedhof, nicht den ganzen Tag unten im Freihafen stand und sich in der Spätsommersonne sonnte, sondern daß er ziemlich rasch an sein Endziel gelangen wollte. Falls es so ist, sind drei Schiffe von Interesse. Gunnar?«
Gunnar Nyberg hatte sich seit der Auseinandersetzung mit den Skinheads in Åkersberga auffallend zurückgehalten. Doch das hatte nur wenig mit Skinheads zu tun. Dagegen hatte es mit einer Dozentin in Slawistik zu tun. Er grübelte ganz einfach darüber nach, wie diese sonderbaren Empfindungen zu erklären waren, die durch seinen Riesenkörper wogten. War es wirklich Liebe? Es war so lange her, und ehrlich gesagt wußte er nicht, ob er jemals in seinem Leben Liebe empfunden hatte. Doch, zu seinen Kindern in den letzten Jahren, als sie schon erwachsen waren, aber vorher? War er jemals verliebt gewesen in die arme Gunilla? Scharf auf sie: Ja. Verliebt: Nein. Möglicherweise, möglicherweise war er jetzt tatsächlich verliebt in die Dozentin Ludmila Lundkvist. Sie waren in ein kleines russisches Lokal in der Drottninggata gegangen. Gunnar hatte zum erstenmal im Leben Borscht gegessen und Bärenbraten. Gut möglich, daß auch der eine oder andere Tropfen Wodka hinuntergeglitten war. Anschließend waren sie in ihre Wohnung in der Luntmakargata gegangen; es war vollkommen selbstverständlich gewesen. Sie hatten eine wunderbare Nacht verbracht. Hinterher wußte er nicht einmal, ob sie ›Sex gehabt‹ hatten, wie es inzwischen so forsch hieß. Es war alles mehr ein Gefühl, wogende Empfindungen, die durch seinen Riesenkörper zogen. Danach hatten sie sich ein weiteres Mal getroffen, zu Hause bei ihm in Nacka. Da hatten sie definitiv ›Sex gehabt‹. Es war ganz einfach himmlisch. Sie hatte auf der Empore in der Kirche von Nacka gesessen und zugehört, als der Kirchenchor übte. Der Chorleiter hatte am Ende gesagt, daß der Baß an diesem Tag ungewöhnlich rein und klar geklungen habe. Dann gingen sie nach Hause und liebten sich. Ungewöhnlich rein und klar.
Nein, sie hatten keinen ›Sex gehabt‹. Sie hatten sich geliebt.
Jetzt sagte Gunnar Nyberg ungewöhnlich rein und klar:
»Die drei in Frage kommenden Schiffe an diesem Abend waren: die französische M/S Marie Curie, die um 16 Uhr 15 mit einer Stückgutladung aus Le Havre eintraf, die sowjetische M/S Cosmopolit, die um 18 Uhr 25 mit einer Stückgutladung aus Odessa einlief, und schließlich die deutsche M/S Mercedes, die um 19 Uhr 35 mit einer Ladung PKWs aus Kiel ankam. Wir versuchen, diese Schiffe nach zwanzig Jahren und einer gründlichen Veränderung der Europakarte zu lokalisieren. Es scheint nicht ganz einfach zu sein. Möglicherweise könnten wir sagen, daß Zeit und Raum auf die Cosmopolit hindeuten.«
»Aus Odessa in der Sowjetunion«, sagte Paul Hjelm.
»Der heutigen Ukraine«, sagte Gunnar Nyberg.
Eine Weile war es still. Ein Koordinatensystem, das aussah wie ein großes Pluszeichen, trat auf einer Reihe von Netzhäuten in Erscheinung. Ein Quadrant, der ein wenig in der Luft hing, wurde zu den anderen hingesogen.
»Hypothesenstunde«, sagte Paul Hjelm. »Wenn der nasenlose Shtayf aus der Ukraine kommt und zu Leonard Sheinkman fährt, haben wir die Verbindung, die uns gefehlt hat. Sie ist natürlich immer noch extrem vage, aber falls es so ist, haben wir eine denkbare Verbindung zwischen unseren ukrainisch sprechenden Erinnyen und unserem emeritierten Professor. Es wird natürlich nicht weniger interessant dadurch, daß Shtayf am gleichen Tag ermordet wird, an dem er Sheinkman besucht, und daß er in dem kleinen Badesee Strålsjön in Älta gefunden wird, das unmittelbar nordwestlich von Tyresö liegt. Es wird auch nicht weniger interessant dadurch, daß Sheinkman neunzehn Jahre später zu Shtayfs Grab pilgert und über diesem Grab seinen Tod findet.«
»Das kann man nicht sagen, nein«, meinte Hultin. »Was zum Teufel ist das hier?
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