Tiefer Schmerz
können?
Ich war es, der bleiben wollte. Ich konnte Berlin nicht verlassen. Es war meine Stadt, mein Land, mein Leben.
Und so verleugnete ich sie.
Da bin ich gestorben.
Ich habe ja versprochen, es heute zu erzählen. Ich habe es mir selbst versprochen.
Sie führten Magda und Franz ab, um sie zu erschießen. Magda wurde ertappt, als sie Brot aus der Unterkunft der Soldaten stahl. Sie haben sie erschossen.
Und ich rührte keinen Finger. Dann hätten sie mich auch erschossen.
Ich verstehe nicht, was das für ein eigentümlicher Überlebensinstinkt war. Ich wußte ja schon damals, daß ich gestorben war. Warum wählte ich einen langgezogenen Leidenstod, statt versöhnt zusammen mit meiner Familie zu sterben?
Jetzt fällt die Zeit. Jetzt, vor meinen Augen. Während ich dies schreibe. Der schwarze Turm mit dem alten Präzisionsuhrwerk, das Mauerwerk, das Jahrhunderte hindurch gestanden hat – jetzt genau fällt es. Die Kirchenfenster klirren spröde durch das Dröhnen der Bomben. Umrahmt vom aschgrauen Weltuntergangsrauch der fallenden Stadt steigt eine farbenfrohe Wolke von Glassplittern auf.
Es hätte schön sein können.
Einundzwanzigster Februar 1945
Mein Name steht an erster Stelle auf der Liste. Die Zeit ist gefallen. Ich habe sie ja fallen sehen.
Der freundlichste der drei Offiziere war bei mir und hat es mir mitgeteilt. Ich sollte eine Stunde bekommen, um mich vorzubereiten.
Bald wird die kleine Kompresse an meiner Schläfe sitzen. Jemand wird durch ein Zellenfenster auf mich hinausblicken und denken, daß sie wie eine Laterne leuchtet.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Bald wird der Schmerz mich mit einer Kraft erreichen, die ich mir nie auch nur im Traum hätte vorstellen können.
Das ist der Preis für meinen Verrat.
28
Er mußte es zugeben. Er liebte diesen Fall bereits. Ein paar Tage waren vergangen, die Informationen strömten herein, aus Mailand ebenso wie aus Stockholm, und er begann einzusehen, daß dieser Fall kein richtig normaler Fall war.
Richtig normal war er nicht. Richtig normal war auch Kommissar Italo Marconi nicht. Seine Miene war finster.
»Ein richtig guter Freund?« sagte er und fixierte den Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs.
Der Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs sagte:
»So hat er sich ausgedrückt. Es lag ihm sehr viel daran, es zu betonen.«
Marconi schüttelte den Kopf. Die Schnauzbartenden zitterten wie Schilf im Seewind. »Signor Sadestatt«, sagte er schließlich. »Sie glauben also, daß ich Marco di Spinellis sehr guter Freund bin?«
»Keineswegs«, sagte Söderstedt. »Aber er wollte, daß ich es glaube. Warum?«
»Weil es ihm in der Vergangenheit einmal gelungen ist, mich mit einem anderen Polizisten in einen Streit zu ver wickeln. Ich habe ihn beschuldigt, gekauft zu sein. Ich habe mich geirrt. Erst nachdem er Selbstmord begangen hatte, fand ich den Beweis.«
»Er spielt gern seine Spielchen mit der Polizei«, nickte Söderstedt und versuchte, sich in eine entsprechende Situation zu versetzen. Arto Söderstedt beschuldigt Paul Hjelm, bestochen zu sein. Paul Hjelm nimmt sich das Leben. Arto Söderstedt erfährt, daß Paul Hjelm unschuldig ist.
Es ging nicht.
Die Situation war so vollkommen anders.
Er hoffte, daß es so bliebe.
»Das tut mir wirklich leid«, sagte er und fand, daß es jämmerlich klang.
»Mir auch«, sagte Marconi und straffte sich.
»Er will also nicht mehr mit mir spielen?« sagte Söderstedt.
»Es sieht nicht danach aus. Er weigert sich, Sie zu treffen. Was wollen Sie mit einer neuen Zusammenkunft erreichen?«
»Ich möchte ihn noch ein wenig mehr unter Druck setzen.«
»Marco di Spinelli setzt man nicht unter Druck.«
»Doch«, sagte Söderstedt. »Er darf nur nicht merken, daß man es tut.«
»Ich bin nicht ganz sicher, ob ich begriffen habe, was Sie bei Ihrem letzten Besuch erreicht zu haben glauben. Er kannte also diesen jüdischen Greis, Leonard Sheinkman?«
»Ich bin ziemlich sicher, daß er ihm im Krieg begegnet ist. Und es gibt keine Hinweise, was er während des Krieges gemacht hat?«
»Sie haben seine Akte selbst gelesen. Sein Leben ist gut dokumentiert. Nur die Kriegsjahre nicht. Und er war nie Mitglied der faschistischen Partei. Seltsamerweise. Er ist ein Selfmademan aus den Armenvierteln von Mailand. Er tat sich in einer Klosterschule hervor und wurde von einem katholischen Priester unter die Fittiche genommen, der ihm weitergehende Studien ermöglichte. Er wurde schon
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