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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Jorge.
    »Nein, hört mal, das sieht richtig prima aus. Ist das Kinderzimmer eingerichtet?«
    »Dieses blöde Kindergequatsche dauernd«, sagte Jorge.
    »Bald«, sagte Sara.
    Das Thema wurde rasch und ohne weitere Zwischenfälle aufgegeben. Alle Anwesenden verabschiedeten sich der Reihe nach von Arto. Anja tauchte einen kurzen Moment auf dem Bildschirm auf und sagte skeptisch: »Das Wunder der Technik.«
    In diesem Augenblick löste sich das Bild in eine Masse eigentümlicher bunter Quadrate auf, so daß der Bildschirm einem Kirchenfenster ähnlich war.
    Das jedenfalls fand Paul. Die Kirchenglocken hallten noch immer in seinem Innern wider.
    Ihm war, als könnte er jeden Augenblick platzen.
    Die bacchantische Gesellschaft verteilte sich anschließend ein wenig unregelmäßig auf Sofas und Sesseln um den indischen Glastisch.
    Paul blieb am Bücherregal stehen. Für einen kurzen Moment verebbte der Klang der Kirchenglocken, und etwas anderes trat an seine Stelle. Er zog ein Buch aus dem Regal, Die große Leere. Der Verfasser hieß Ellroy.
    Jorge stand da und paffte an einer Zigarette, die er so unroutiniert in der Hand hielt wie ein Schulmädchen. Er lachte, zeigte auf das Buch und sagte: »Da hast du deine Vielfraße. James Ellroy.«
    »Allerdings sind es keine Vielfraße«, sagte Kerstin und paffte genauso unroutiniert, zumal ihr gleichzeitig mindestens ein Priem unter der Lippe klebte.
    »Wolverine Blues«, sagte Jorge und gab Sara einen feuchten und rauchigen Kuß.
    Eine Flasche frisch eingetroffener Cragganmore wurde entkorkt, und die asymmetrischen Wellen der Diskussion schwappten durch die kleine Dreizimmerwohnung, bis Salsamusik aus unsichtbaren Lautsprechern zu strömen begann und unrhythmisches Trampeln die Decke der Nachbarn traktierte. Hultin und Stina tanzten Walzer zur Salsamusik. Es sah aus wie ein paar angeschossene Lemminge auf dem Weg zur Felskante. Jorge forderte Cilla ganz förmlich zum Tanz auf und segelte mit professionellen Tanzschritten durchs Zimmer. In wenigen Minuten verwandelte sie sich von einem blonden Fähnchen in eine dunkle, mystische Latino-Tanzkönigin. Wahrscheinlich war einfach nur die Beleuchtung schwach. Gunnar und Ludmila tanzten einen Knutscher. Es sah direkt lebensgefährlich aus. Eine Katze in der Umarmung eines Grizzlybären. Ein Saugfisch an einem Hai. Ein Lamm in der Umschlingung einer Anakonda. Viggo und Astrid übergaben unter schweren Bedenken Charlotte an Sara, die anschließend dasaß und die Kleine mit schmachtenden Zügen liebkoste, und begaben sich als mittelmäßiges Volkstanzpaar auf die Tanzfläche.
    Nur Paul und Kerstin blieben stieselig stehen und betrachteten das Spektakel aus der Distanz.
    Er hatte die plötzliche Vision einer sterbenden Zivilisation, die stolpernde Tanzschritte am Abgrund machte, er sah die Gestalten als geschichtslose Hüllen, die ihr Gehopse gleich Marionetten über einer Tiefe vollführten, in die sie stürzen würden, wenn der Puppenspieler die Drähte losließe. Und dann wäre es schon zu spät.
    Es dauerte nur einen ganz kurzen Moment, und im Grunde war es nicht besonders ergiebig. Distanz ist nur Feigheit, dachte er verwirrt, nahm Kerstin an der Hand und führte sie auf die Tanzfläche, und sie ließ sich führen. Allerdings war es eigentlich so, daß sie führte und er sich einbilden durfte, er täte es. Als er seine Wange in ihrem zerzausten dunklen Haar begrub und Düfte spürte, die er jahrelang nicht gespürt hatte, verflüchtigten sich die hartnäckigen Kirchenglocken in seinem Innern, und als er das Ohr an die dünne, dünne Stelle an ihrer linken Schläfe legte, war ihm, als träte er in Direktkontakt mit ihren Gedanken. Und das war nicht das schlechteste.
    Er hatte keine Ahnung, wie sie im Taxi gelandet waren, doch da saßen sie, und Cillas blondes Haar lag wieder über seine Schulter gebreitet, und er hörte sie sagen: »Ich weiß, daß ihr eine Affäre hattet.«
    Er hätte wohl empört sein sollen. Doch er war es nicht. Er strich ihr sacht übers Haar und schwieg.
    »Es ist okay«, sagte Cilla. »Ich weiß, daß es lange her ist.«
    »Hat sie das gesagt?«
    »Sie hat viel gesagt. Ich mag Kerstin richtig gern.«
    »Hast du es früher gewußt?«
    »Ich habe es vermutet. Aber mir war auch klar, daß es vorbei war.«
    »Hast du sie gefragt?«
    »Nein. Sie hat es selbst gesagt. Ich habe den Eindruck, daß sie mit der Vergangenheit ins reine kommen will. Löcher in der Zeit zustopft, wie sie es genannt hat.«
    Paul lächelte. Er

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