Tiefer Schmerz
Wahrscheinlich winkte eine gutdotierte amerikanische Gastprofessur, und die zu opfern war der Professor nicht bereit.
Nicht einmal, um eine internationale Mordermittlung zu unterstützen.
Sie konnte ihn zwingen. Sie konnte mit harten Bandagen vorgehen, einen Gerichtsbeschluß erwirken und ihn zum Sprechen zwingen. Aber einerseits würde das zu lange dauern, anderseits würde bei diesem Vorgehen viel Wichtiges, Dinge, die man nur im Vertrauen sagt, verlorengehen. Sie mußte sich behutsam vortasten.
»Wir werden keine wissenschaftlichen Ergebnisse preisgeben«, sagte sie.
Professor Herschel lachte auf. »Aber Fräulein Holm«, sagte er. »Wir sind beide im öffentlichen Dienst tätig. Wir wissen, wie wenig wir im Verhältnis zu jedem kleinen Laufburschen in der freien Wirtschaft verdienen. Die Welt ist im Moment extrem ungerecht, und ich würde Ihnen nicht einmal einen Vorwurf machen, wenn Sie die Information für Hunderttausende von Mark an die Bild-Zeitung verkauften. Aber wir wissen beide, daß öffentliche Institutionen so durchlässig sind wie Siebe. Alles, was die Polizei weiß, wissen binnen weniger Stunden auch die Medien.«
»Sie haben vollkommen recht«, sagte Kerstin Holm.
»Wie wollen wir denn jetzt verfahren? Haben Sie einen Vorschlag?«
Neues Schweigen in Jena. Doch diesmal hatte sie den Eindruck, daß es ein anderes, ein nachdenkliches Schweigen war.
»Und noch etwas«, sagte Herschel. »Ich weiß, daß sie glauben, es handele sich nur um akademische Reviere, das höre ich an Ihrer Stimme. Aber es gibt noch einen wichtigeren Aspekt. Sind Sie einmal im Hitlerbunker in Berlin gewesen?«
»Nein«, sagte Kerstin Holm.
»Das sind sehr wenige. Und so soll es auch sein. Er darf auf gar keinen Fall zu einem Wallfahrtsort für den anwachsenden Neonazismus werden. Die Geschichte und die wissenschaftliche Wahrheit müssen gegen praktische Aspekte abgewogen werden. Es ist eine Frage der Pragmatik. Was dient der Demokratie mehr? Die Wahrheit oder das Schweigen?«
»Wir sprechen also über einen neuen potentiellen Wallfahrtsort für Neonazis?«
»Ja«, sagte Ernst Herschel.
»Ich verstehe«, sagte Kerstin Holm.
Es war einen Moment still. Herschel dachte an das rasche Anwachsen des Neonazismus in der undemokratisch geschulten ehemaligen DDR. Holm dachte an die Erinnyen. Sie fragte sich, ob sich das Bild, das sie sich von ihnen machte, allmählich veränderte.
Schließlich sagte sie: »Ich kann Ihre Besorgnis sehr gut verstehen. Professor Herschel. Es ist eine durchaus berechtigte Sorge um die Zukunft. Aber die Zukunft muß auch gegen die Gegenwart abgewogen werden. Und Ihre Schweigepflicht muß gegen meine abgewogen werden. Ich werde Ihnen jetzt etwas sagen, das der äußersten Geheimhaltung unterliegt.«
Neues Schweigen in Jena. Wieder eine neue Sorte. Ein lauschendes Schweigen.
Kerstin Holm fuhr fort: »Ich arbeite gegenwärtig mit mehreren europäischen Ländern im Rahmen einer gemeinsamen Ermittlung zusammen. Bisher sind im Laufe eines guten Jahres in Schweden, Ungarn, Slowenien, England, Italien und Deutschland sieben Menschen ermordet worden. Sie sind alle auf die gleiche Art und Weise ermordet worden; sie wurden mit dem Kopf nach unten an den Füßen aufgehängt, dann wurde ihnen eine sehr spezielle steife Nadel in die Schläfe eingeführt und im Schmerzzentrum der Hirnrinde hin und her bewegt.«
Neues Schweigen in Jena. Langsam akzeptierend, langsam immer bereitwilliger.
»Ich verstehe«, sagte Ernst Herschel schließlich. »Die Zukunft ist bereits da.«
»So kann man die Sache wohl formulieren.«
»Wer steckt dahinter?«
»Das wissen wir nicht, aber wir nennen sie die Erinnyen.«
Wieder Schweigen in Jena. Ein Schweigen der Vorbereitung. Dann barst die Stille: »Als die Mauer fiel, war Weimar eine gefallene DDR-Schönheit«, begann der Professor.
»Zehn Jahre später war die Stadt – mit sechzigtausend Einwohnern – Kulturhauptstadt Europas. Hier wirkten Cranach, Bach, Goethe, Schiller, Herder, Wieland, Liszt, Nietzsche, Strauss, Böcklin, die Bauhaus-Architekten. Hier wurde die erste deutsche Demokratie geschaffen. Hier wurde das allererste Parteitreffen der Nationalsozialistischen Partei abgehalten. Hier wurde die Hitlerjugend ins Leben gerufen. Hier wurde Buchenwald gebaut, zuerst deutsches, danach sowjetisches Konzentrationslager. Das Beste und das Schlechteste der europäischen Kultur findet sich hier nebeneinander.«
Der Professor machte eine Pause und fuhr dann fort:
»Einige
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