Tiefer Schmerz
Dreiviertelstunde hier«, sagte Hultin. »Ich traue dieser Redensart von wegen ›Je später der Abend‹ nicht richtig.«
»Ich auch nicht«, sagte Paul. »Und trotzdem komme ich immer als letzter.«
In diesem Moment erschien Sara in der Küchentür und klatschte in die Hände wie eine altmodische Gastgeberin.
»Verehrte Gäste«, sagte sie mit kräftiger, handfester Stimme. »Nehmt Platz am Tisch. Jorge, hilf mir mal tragen.«
»Hilf mal hier, hilf mal da«, sagte Jorge und löste sich widerwillig von der Gesellschaft. »Ich habe doch schon das Essen gemacht.«
»Und ich bin der schwedische Ministerpräsident«, sagte Sara und verschwand in der Küche.
Die Gäste erhoben sich ein wenig zögernd, weil nur sehr wenige Menschen sich als erste an einen leeren Tisch setzen mögen. Besonders wenn – wie es hier offensichtlich der Fall war – keine Sitzordnung vorgegeben ist.
Auf dem Weg zum Tisch stieß Paul mit Cilla und Kerstin zusammen. Er nahm Kerstin in den Arm. Cilla stand daneben und betrachtete sie. Es kam ihm immer noch sehr seltsam vor. Trotz der Jahre, die verflossen waren und die milde Decke der Versöhnung über die Landschaft der Vergangenheit gebreitet hatten. Wenn man sich nun in Klischees suhlen wollte.
»Alles okay, Kerstin?« sagte er.
»Alles okay«, sagte sie.
Mehr wurde nicht gesagt. Gunnar stieg auf einen Stuhl, der sich aufs äußerste anstrengte, um allen erdenklichen Naturgesetzen zu trotzen. Und es gelang. Er hielt.
Der Große auf dem Stuhl zählte laut. »Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs Damen. Sieben mit Charlotte. Eins, zwei, drei, vier, fünf Herren. Ein klares Ungleichgewicht.«
»Wir können nebeneinandersitzen«, sagten Kerstin und Cilla.
Paul betrachtete sie mißtrauisch.
»Dann machen wir es so«, sagte Gunnar, der in seinem frischgewonnenen Zustand auch noch von Führermanie befallen zu sein schien. »Neben mir Astrid, dann Jan-Olov, Sara, Paul, Stina, Viggo, Ludmila, Jorge, Cilla, Kerstin. Und Charlotte sitzt bei …?«
»Astrid«, sagte Viggo.
»Viggo«, sagte Astrid.
»Ausgezeichnet«, sagte Gunnar und sprang mit der neuerworbenen Beweglichkeit des Abgespeckten vom Stuhl.
Charlotte saß tatsächlich während des gesamten Essens auf Viggos Schoß. Es gab eine chilenische Fleischpfanne mit atemberaubenden Mengen Knoblauch. Der Wein, ein Duca d’Aragona 1993, war perfekt auf die Knoblauchmenge abgestimmt und wurde folglich in bacchanalischen Quantitäten konsumiert.
»Weinverbrauch ist ein Zeichen der Europäisierung«, sagte Ludmila gegen Ende der Mahlzeit in einem Ton, der für Gegenargumente keinen Raum ließ.
»Wie meinst du das?« fragte Hultin, der die Gesellschaft dadurch überrascht hatte, daß er den Löwenanteil daran für sich beanspruchte.
Also am Weinverbrauch.
»Als ich nach Schweden kam«, fuhr Ludmila fort, »stecktet ihr noch genauso im Wodkagürtel wie wir Rus sen, nur nicht ganz so fest. Nach und nach seid ihr zu Wein übergegangen. Von Branntwein zu Wein.«
»Wein wie Wein«, sagte Viggo und fuhr der schon lange eingeschlafenen Charlotte mit der Hand übers schüttere Haar.
Ludmila ignorierte ihn umstandslos. »In Rußland dagegen, und eigentlich in ganz Osteuropa, zieht sich der Wodkagürtel immer fester zusammen. Wir sind auf dem besten Wege, eine verlorene Nation zu sein.«
»Aber doch nicht nur deshalb?« sagte Paul und tangierte das heilige Versprechen. Er erntete auch ein paar strenge Blicke.
Frauenblicke.
»Ich bin davon überzeugt«, fuhr Ludmila fort, »daß sich der Zustand einer Nation danach bemessen läßt, wie hoch der Weinanteil am gesamten Alkoholverbrauch ist. Je größer der Weinanteil, desto höher das seelische Wohlbefinden im Lande.«
»Es gibt aber auch eine Dunkelziffer«, sagte Gunnar und schien vom Wein total unbeeinflußt zu sein. »Ich glaube, daß Schweden die höchste Dunkelziffer in der Welt hat.«
»Meinst du Selbstgebrannten?« sagte Paul.
»Und Schmuggelschnaps. Aber vor allem Selbstgebrannten, also Branntwein.«
»Warum heißt es eigentlich Branntwein?« fragte Viggo, ohne einen einzigen Augenblick aufzuhören, seiner Tochter übers Haar zu streichen. »Es ist doch verdammich kein Wein.«
Ludmila nutzte die Gelegenheit zu einem linguistischpädagogischen Exkurs: »Das Wort ist im Mittelalter ins Schwedische gekommen. Damals hieß es ›brännewin‹ und kam vom niederdeutschen ›bernewin‹, das ›gebrannter, also destillierter Wein‹ bedeutet. Auf niederländisch hieß es ›brandewijn‹,
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