Tiefer Schmerz
was dann nach und nach zu ›brandy‹ wurde.«
Paul sah, daß Gunnar von seiner Freundin schwer beeindruckt war. Nach all den Jahren zeigte es sich also, daß dies sein Frauengeschmack war.
»Aber das ist doch keine Antwort«, widersprach Viggo.
»Wir sind genau da, wo wir vorher waren, und treten auf der Stelle. Warum nannten sie es Wein, wenn es Sprit war?«
»Weil es das Wort ›Sprit‹ noch nicht gab«, sagte Ludmila. »Das wurde Ende des achtzehnten Jahrhunderts nicht aus dem Deutschen, sondern aus dem Französischen importiert. Es kommt direkt vom französischen ›esprit‹, also ›Geist‹.«
»Also Wein bedeutete Sprit, und Sprit bedeutete nicht mal’n Schiet«, reimte Viggo unerwartet aggressiv.
»Die Sprache verändert sich laufend«, sagte Ludmila ruhig.
»Und du schreist Ludmilla nicht so an«, sagte Gunnar ebenso ruhig.
Nicht die neun schweren Schläge vom Turm der fernen Gustav-Vasa-Kirche unterbrachen die leicht angesäuerte Diskussion, sondern die Tatsache, daß Jorge plötzlich einen Laptop mitten auf den Eßtisch stellte.
Die neun Schläge erzeugten jedoch einen Widerhall in Pauls Bewußtsein. Mit jedem einzelnen Schlag nahm eine ebenso abrupte wie absurde Einsicht festere Form an. Am Ende war sie so vollständig und so überwältigend, daß er ein ganzes Glas Duca d’Aragona hinunterkippen mußte, um das heilige Versprechen nicht zu brechen.
Jorge befestigte ein Ding, das wie eine kleine Taschenlampe aussah, an der Oberkante des aufgeklappten Bildschirms. Dann drehte er den Laptop so, daß er seinem eigenen Platz am Tisch zugewandt war, setzte sich und rief die Gäste zu sich. »Sammelt euch, Leute!«
Die Leute standen widerwillig und zögernd auf. Hultin machte ein paar elegante Wackelschritte und lächelte schief. Seine Frau Stina stützte ihn und sagte ungerührt:
»Wein ist angeblich gut gegen Schlaganfall. Ich erlaube mir, das zu bezweifeln.«
Gunnar senkte seinen ehemaligen Riesenkörper hinter Ludmilas Stuhl und streichelte ihr leicht den Nacken. Kerstin warf sich seitlich über Cilla, die laut und, wie Paul fand, völlig unmotiviert lachte. Astrid ging zu Viggo hinüber und klopfte ihm liebevoll auf den Schädel; er selbst streichelte unverdrossen die Haarsträhnen seiner schlafenden Tochter. Paul rutschte hinüber und stellte sich ganz hinten hin. Sara trat neben ihn und legte den Arm um ihn. Er merkte es kaum.
Es flimmerte auf dem Bildschirm, und eine eigentümliche Gestalt offenbarte sich.
»Hallo, Lohnarbeiter«, sagte die eigentümliche Gestalt.
»Nein, verdammich, ich glaub’s nicht«, stieß Viggo hervor. »Der finnländische Finnenbulle.«
»Arto«, sagte Jorge und wirkte einen Augenblick lang stocknüchtern. »Wie geht’s? Wir haben hier Einzugsfest.«
»Das habe ich mitgekriegt«, sagte Arto Söderstedts ein wenig sprunghaftes Abbild. »Ich selbst habe gerade angefangen, auf meinen täglichen Vin Santo zu verzichten. Ich habe heute angefangen. Nach drei Gläsern Wein kam ich zu diesem drastischen Entschluß.«
Ein allgemeines Gemurmel breitete sich in der Wohnung in Birkastan aus.
Jorge stellte mit großer Autorität und einem Pschsch die Ruhe wieder her. »Wie geht es dir?« wiederholte er.
»Danke, ausgezeichnet«, sagte Arto. »Wenn mir nicht eine Reise bevorstände. Wird man in der Ukraine nicht regelmäßig ausgeraubt?«
»Du hast auch das heilige Versprechen geleistet, nicht wahr?«
»Ja, natürlich. Verzeihung. Nein, wie gesagt, es geht gut. Abgesehen davon, daß meine Tochter die Unschuld verlo ren hat, daß ich einen Nachzügler bekomme und daß hinter den Basilikumpflanzen uralte Rachegöttinnen lauern.«
Kerstin und Sara räusperten sich vernehmbar. Das Söderstedtsche Abbild legte die Hand vor den Mund und bekreuzigte sich. »Tut mir leid«, sagte er. »Slip of tongue.«
»Nachzügler?« schrie Viggo. »Jesses, Maria und Joseph, du alter Bock. Wir kriegen auch ein Kind.«
»Apropos Böcke?« sagte Arto. »Prima. Mensch, gratuliere. Gut fürs Babysitten, außerdem.«
»Und der Familie geht’s gut?« sagte Jorge.
»Doch, doch«, sagte Söderstedt. »Wir mußten vor einer Stunde ein kleines Heimlich- Manöver durchführen, aber sonst ist alles in Ordnung. Zeig mal ein bißchen von eurer Wohnung.«
Jorge löste die kleine Kamera vom Bildschirm des Laptops und ließ sie kreisen.
»Oj«, sagte Arto. »Was für grünes Haar.«
»Zwanzig Bahnen jeden Sonntag«, sagte Sara lakonisch.
»Aber ob morgen, das lassen wir lieber offen«, sagte
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