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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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war wohl schon früher im Direktkontakt mit ihren Gedanken gewesen. Vielleicht dachte er Kerstins Gedanken. Vielleicht war deshalb ihr Schädelknochen verdünnt worden. Damit vernünftige Gedanken ihn leichter erreichten.
    Cilla fuhr fort: »Es ist okay, Paul. Ich hatte auch eine Affäre. Damals.«
    Aber jetzt? dachte er. Sollte ich jetzt nicht empört reagieren?
    »Als wir uns getrennt hatten?« sagte er nur.
    Um ein bißchen Ordnung zu schaffen.
    »Ja, in dem Frühjahr. Sie war ebenso kurz wie eure Geschichte. Aber sonderbarerweise möchte ich es nicht ungeschehen machen.«
    »Ich auch nicht«, sagte Paul.
    »Hast du nicht bemerkt, daß irgend etwas mit ihr vorgeht?«
    »Mit Kerstin? Nein, nicht direkt.«
    »Sie hat erzählt, daß sie eine Krise durchmacht. Eine Metamorphose, hat sie es genannt. Sie sagt, sie hätte nicht gewagt, es sich richtig einzugestehen.«
    »Hat sie gesagt, was es ist?«
    »Nicht direkt. Aber ich glaube, daß sie auf dem Weg ist, religiös zu werden.«
    Sie verstummten. Von wegen Direktkontakt, dachte Paul und spürte, wie der Alltag sich im Taxi breitmachte.
    Religiös?
    Als sie im Bett lagen und viel zu müde und erledigt waren, um all das zu tun, woran sie im Taxi gedacht hatten, kehrten die Kirchenglocken zurück in Pauls Bewußtsein. Unmittelbar bevor er einschlief, dachte er noch, daß er von der Schweigepflicht entbunden war. Die Zeit des heiligen Versprechens war zu Ende.
    Er erzählte Cilla alles. Daß sie tief und fest schlief, spielte keine entscheidende Rolle.
    Es ging eher darum, nicht zu platzen.
    Vielleicht schlief er schon, als er sagte: »Es gab doch wohl keine Kirche in Buchenwald.«

32
    Da wir aus humanitären Gründen den Sonntag lieber mit Schweigen übergehen, machen wir einen Zeitsprung zum Montag.
    Montag, der fünfzehnte Mai.
    Montagmorgen können ganz unterschiedlich aussehen. Für die einen ist es die reine Freude, nach einem langen, sich dahinschleppenden Wochenende in Einsamkeit oder ehelicher Misere wieder zur Arbeit zu gehen. Für andere beinhaltet es eine unendliche Quälerei, sich hochzurappeln und eine sinnlose, kreativitätstötende Woche vor sich zu haben. Für wieder andere ist es eine Qual, sich vorzustellen, daß jetzt alle anderen zur Arbeit gehen, all die Glücklichen, die überhaupt eine Arbeit haben, zu der sie gehen können.
    Aber es gibt noch eine weitere Kategorie: Glückspilze, die trotz eines außergewöhnlich erfreulichen Wochenendes in kindlicher Erwartung der Arbeit entgegensehen.
    Einer der letzteren hieß Paul Hjelm.
    Er kehrte zu Leonard Sheinkmans Tagebuch aus jener furchtbaren Woche im Februar 1945 zurück. Das Tagebuch lag im Polizeipräsidium – und wäre das nicht der Fall gewesen, hätte der Sonntag nicht mit Schweigen übergangen werden können.
    Er fand nämlich eine ganze Menge.
    Es fing jedoch schleppend an. Obwohl ›schleppend‹ kaum das richtige Wort ist. Es begann eher mit Selbstverachtung.
    Er fühlte sich wie ein Vergewaltiger.
    Die zehn vergilbten Seiten des Tagebuchs waren auf dem Schreibtisch ausgebreitet. Die Stellen, wo der Bleistift das Papier berührt hatte, formten eine Schrift. Diese Schrift war nicht nur gelagerte Information über ein objektiv rekonstruierbares Geschehen in der Vergangenheit.
    Es waren Worte vom Rand des Todes, und diese Worte hatten in ihm Widerhall erzeugt und ihn in den Abgrund gestoßen. Er hatte geweint zu diesen Worten, ein Weinen, das aus den innersten Winkeln der Seele kam. Die Worte hatten eine Zeit und eine Erfahrung wachgerufen, die allmählich verblaßte. Sie kamen ihm auf eine gewisse Weise heilig vor.
    Dieser Text lag jetzt vor ihm, ausgebreitet wie ein Vergewaltigungsopfer, und er wollte sich jetzt darüber hermachen mit dem ganzen Arsenal von rationalen Strukturen, auf dem die abendländische Fortschrittsgesellschaft aufbaute: Logik, analytische Schärfe, stringente Penetration.
    Er würde den Text ganz einfach vergewaltigen.
    Wie es einem guten europäischen weißen heterosexuellen Mann in mittleren Jahren ansteht.
    Ihn anderseits ungestört in seinem Kokon ruhen zu lassen, das hieße, vor der Wahrheit zurückzuweichen, auf Erkenntnis zu verzichten, einen mythischen, unveränderlichen Zustand des Bebens zu akzeptieren, in ein Zeitalter des Dunkels zurückzutreten und finsteren, unmenschlichen Kräften den Weg zu bereiten.
    Gab es nicht eine Methode, nüchtern und scharf zu analysieren und dennoch – vielleicht gerade dadurch – das betroffene Mysterium am Leben zu

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