Tiefer Schmerz
erhalten?
Dies schien die entscheidende Frage zu sein. Und nicht nur, was Leonard Sheinkmans Tagebuch betraf, auch nicht nur für diesen Fall in seiner Gesamtheit, sondern auch für die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit.
War es das, was Kerstin erkannt hatte?
Hatte sie erkannt, daß wir ohne das Mysterium nur leere Hüllen sind?
In diesem Augenblick überwand Paul Hjelm sich selbst (wie man zu sagen pflegt, wenn die Dinge wieder in die eingefahrenen Gleise zurückkehren) und machte sich an den Text. Mit Hilfe von Logik, analytischer Schärfe und stringenter Penetration nahm er sich Leonard Sheinkmans Tagebuch aus einer für dessen weiteres Leben entscheidenden Woche im Februar 1945 an, kurz vor Kriegsende.
Leonard Sheinkman hatte sich nicht in Buchenwald befunden, in jenem grauenhaften Konzentrationslager, das im Juli 1937 vor den Toren der Kulturstadt Weimar errichtet wurde, auf einer öden Anhöhe mit Namen Ettersberg. Dort gab es definitiv keine Kirche vor dem Fenster.
Zwei Alternativen waren denkbar: Entweder war die Kirche lediglich ein Bild, ein Gleichnis, um ›die Zeit zu sehen‹, wovon Sheinkman die ganze Zeit sprach, oder sie existierte tatsächlich und war zugleich ein Bild, um ›die Zeit zu sehen‹. Für letzteres sprach, daß diese Kirche so detailliert beschrieben wurde, und außerdem in Verbindung mit den Bombardements durch die Alliierten, die ja im Februar 1945 in Deutschland verstärkt wurden.
Alles deutete darauf hin, daß Sheinkman sich in einer Stadt befand, nicht auf einer öden Anhöhe.
Warum hatte er dann sein ganzes späteres Leben hindurch behauptet, er sei in Buchenwald gewesen? Warum hatte er seinen Kindern konkret gesagt, daß er in Buchenwald gesessen hatte?
Auch hier gab es zwei Möglichkeiten: Entweder hatte er in dieser Stadt so Entsetzliches erlebt, daß ihm selbst der Alptraumort Buchenwald wie eine freundlichere und leichter zu handhabende Alternative vorkam, oder aber – er hatte etwas zu verbergen.
Paul Hjelm wartete damit. Er wartete auch mit der Stadt, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt wohl nicht zu identifizieren war. Statt dessen nahm er sich der beschriebenen Örtlichkeit an.
Offenbar handelte es sich um eine Institution. Die Gefangenen sitzen in einer Art von Zellen. Es gibt eine Liste, und wenn man ganz oben auf dieser Liste landet, wird einem etwas Entsetzliches zugefügt. Das Ergebnis ist, daß auf irgendeine Art und Weise die Persönlichkeit ausgelöscht wird. Wie es bei dem Kameraden Erwin der Fall ist. Wenn ich ihn anspreche, ist er nicht da. Eine leere Hülle. Wo der Inhalt aus dem Kopf herausgelassen worden ist, sitzt eine unschuldige kleine Kompresse. Diese Kompresse kehrt wieder. Die Kompressen leuchten wie Laternen von den geleerten Schädeln. Und: Bald wird die kleine Kompresse an meiner Schläfe sitzen.
Schläfe, dachte Paul Hjelm und schloß die Augen.
Natürlich.
Eine dünne Wand trennte Paul Hjelm von Kerstin Holm. Auf der anderen Seite dieser Wand wurde ein Gespräch mit Europa geführt. Genauer gesagt mit Professor Ernst Herschel am Historischen Institut der Universität Jena.
Er war sehr widerwillig.
Eine Herausforderung, sozusagen.
»Es war falsch, es Josef gegenüber zu erwähnen«, sagte er in einem akademischen Englisch. Gebrochen, aber grammatikalisch fehlerfrei.
»Josef?« sagte Kerstin Holm.
»Josef Benziger in Weimar. Er hat eine Zeitlang bei mir studiert. Ein sehr vielversprechender Mann. Ich begreife nicht, wie er Polizist werden konnte.«
»In welchem Zusammenhang haben Sie es Josef gegenüber erwähnt?«
»Wir trafen uns auf ein Bier, und ich machte ihm Vorwürfe, weil er die Forscherausbildung nicht zu Ende gebracht hatte. Bei der Gelegenheit unterlief mir die Unvorsichtigkeit, mein neues Forschungsprojekt zu erwähnen. Hauptsächlich, um ihm zu zeigen, was für Leckerbissen ihm entgangen waren.«
»Es dreht sich also um Ihr neues Forschungsprojekt?«
Schweigen in Jena.
Kerstin fuhr fort: »Was hindert Sie daran, dieses neue Projekt zu diskutieren?«
»Verschiedene Gründe, Frau Holm.«
»Fräulein«, sagte Kerstin Holm jugendlich.
»Es handelt sich um ein überaus heikles Projekt, Fräulein Holm. Ich hoffe, in zwei Jahren mit meinem Forscherteam so weit zu sein, daß wir fertige Ergebnisse publizieren können. Im Augenblick befindet sich das Projekt in einem wissenschaftlich recht unbefriedigenden Zustand.«
Akademische Reviere, dachte Kerstin Holm. Hier mußte man seine Worte auf der Goldwaage wiegen.
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