Tiefer Schmerz
fragte Kerstin.
»Am einundzwanzigsten Februar 1945«, sagte Paul und nickte.
»Und wann marschieren die Amerikaner in Weimar ein?«
»Buchenwald wird am elften April befreit.«
Kerstin Holm beugte sich über den Tisch vor, legte eine Prise nach und sagte: »Es vergehen eineinhalb Monate zwischen dem Tag, an dem Leonard Sheinkman in den Operationssaal geführt wird, um mit dem Kopf nach unten aufgehängt zu werden und eine Metallnadel ins Gehirn eingeführt zu bekommen, und dem Tag, an dem Weimar befreit wird. Als er herauskommt, ist ihm wohl kaum im Gehirn herumgestochert worden. Statt dessen lernt er verblüffend schnell Schwedisch, sattelt verblüffend schnell vom Dichter zum Gehirnspezialisten um und wird Professor und Nobelpreiskandidat.«
»Was geschieht in den eineinhalb Monaten zwischen dem einundzwanzigsten Februar, als das Tagebuch endet, und der Befreiung am elften April?«
»Natürlich«, sagte Kerstin Holm, »daß Leonard Sheinkman stirbt. Der jüdische Berliner Dichter stirbt unter fürchterlichen Qualen in einem Kellerraum in Weimar.«
Paul Hjelm stand auf, ging zum Computer und tippte einen Befehl ein.
»Wir haben es die ganze Zeit vor Augen gehabt«, sagte er schließlich und zeigte auf den Bildschirm. »Qvarfordts hoffnungslose Notizen von Leonard Sheinkmans Obduktion. Der Denkfehler. ›Tendenz zu zervikaler Spondylose. Circumcisio postadoleszent. Rheumatoide Arthritis, initial, mit Symptomen in Hand- und Fußgelenken.‹«
»Circumcisio postadoleszent«, sagte Kerstin. »Beschneidung im Erwachsenenalter.«
»Es ist in dem ganzen Latein untergegangen«, sagte Paul.
»In der Sprachverwirrung«, sagte Kerstin.
Sie saßen eine Weile schweigend da, während die Dinge auf sie einstürzten. Nach und nach traten ihnen die grotesken Konsequenzen ihrer Einsicht vor Augen.
Der eiskalte Judenhasser und Judenquäler Anton Eriksson ist an einer experimentellen Folter des jüdischen Dichters Leonard Sheinkman beteiligt. Das erste Mal am einundzwanzigsten Februar 1945. Möglicherweise überlebt Sheinkman ein paarmal und schwankt wie ein unseliger Geist durch die Flure. Möglicherweise stirbt er direkt. Auf jeden Fall ist er schon lange tot, als das Personal Ende März oder Anfang April aus dem Institut flieht. Wahrscheinlich ist sich der kühle Eriksson schon im Februar bewußt, daß die Tage des Instituts und ganz Nazideutschlands gezählt sind. Wahrscheinlich hat er bereits ein passendes Opfer ausgesucht, mit dem er die Identität tauscht, als der Krieg vorüber ist. Es ist der gleichaltrige Leonard Sheinkman.
Der Judenhasser wird Jude.
Der Mörder nimmt die Identität des Opfers an.
Nach Sheinkmans Tod behält Eriksson dessen Papiere, soweit vorhanden, andernfalls stellt er neue aus. Er läßt sich Sheinkmans Gefangenennummer auf den Arm tätowieren und läßt sich beschneiden. Alle Luken müssen abgedichtet werden. Er weiß, spätestens aus Sheinkmans Tagebuch, das er selbstverständlich beschlagnahmt, daß dessen Frau und Sohn in Buchenwald umgekommen sind – eine Familie existiert nicht. Möglicherweise läßt er auch eine Gesichtsoperation durchführen, um einer Entdeckung in Schweden zu entgehen. Es ist jedoch zehn Jahre her, daß Anton Eriksson das Land verlassen hat, und dazwischen liegt ein Weltkrieg, das Risiko, entdeckt zu werden, ist also minimal. Er gelangt nach Schweden, lernt in Rekordzeit Schwedisch, was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, daß er seine Muttersprache lernt. Er durchläuft auch die Ausbildung zum Arzt in Rekordzeit, was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, daß er bereits Arzt ist. Er wird in Rekordzeit Hirnforscher, was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, daß er schon eifrig mit menschlichen Gehirnen experimentiert hat. Und niemand erkennt ihn. Er hat es geschafft. Er hat seine Metamorphose durchgemacht und lebt jetzt als Jude. Er geht in die Synagoge, feiert Sabbat, Pessach, Sukkot, Chanukka, Jom Kippur und heiratet eine Jüdin.
Und der Nazi bekommt jüdische Kinder.
Nichts von dem mußte angesprochen werden.
Aber eins mußte angesprochen werden: »Wie konnte er damit leben?«
Sie sahen sich an.
»Ich glaube nicht, daß er es konnte«, sagte Paul Hjelm.
» Ich glaube, daß er sein Gehirn ganz bewußt so trainierte, daß es die Vergangenheit ausklammerte. Ich glaube, daß Anton Eriksson tatsächlich Leonard Sheinkman wurde.
Ich glaube sogar, daß es ihm gelang, sich selbst zu suggerieren, daß er das Tagebuch geschrieben
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