Tiefer Schmerz
hätte.«
»Aber zweimal wird er an die Vergangenheit erinnert«, sagte Kerstin. »Das erste Mal am siebten September 1981. Da ist er fast siebzig. Auf der Schwelle seines Hauses im Bofinksvägen in Tyresö steht ein freudestrahlender, jetzt nüchterner ukrainischer Jude ohne Nase und erhebt den Anspruch, sein Sohn zu sein. Franz Sheinkman. Es ist der reine Wahnsinn. Er tötet ihn mit einem Küchenmesser. Zwei wuchtige Stöße, die die ganze Kraft seines Handelns, die ganze Tragweite seiner Einsicht erkennen lassen. Er fährt mit der Leiche in den Wald und wirft sie in der Nähe eines Badesees aus dem Wagen.«
»Das zweite Mal ist, als er die Gegenwart der Erinnyen spürt«, sagte Paul Hjelm. »Da kommt alles mit extremer Wucht zurück. Er wird gezwungen, das Blatt im Buch des Lebens wieder umzublättern. Er wird gezwungen, den Text auf der Rückseite des Papiers zu lesen, den er meinte, gelöscht zu haben. Der treibt ihn hinaus zu Franz Sheinkmans anonymem Grab. ›Shtayf‹. Der Grabstein liegt zerschmettert da. Von Neonazis. Es muß ihm vorkommen wie blanke Ironie. Genau da treten die Erinnyen in Erscheinung. Die Rachegöttinnen aus der Urzeittiefe. Bevor sie ihn mit exakt der Methode töten, mit der er selbst am Schmerzzentrum in Weimar zahllose Menschen getötet hat, spricht er mit ihnen. Vermutlich ist er zu diesem Zeitpunkt mit der unerhörten Tragweite seiner Schuld konfrontiert worden und sagt etwas wie ›endlich‹ oder ›wie lange ihr gewartet habt‹. Genau wie Nikos Voultsos in Skansen sieht er sie als wirkliche Rachegöttinnen an, als wirkliche Erinnyen.«
Denn in beiden Fällen gab es einiges zu rächen.
»Dann bleibt trotzdem noch die Frage, was diese beiden Sorten von Rache verbindet. Die Rache der Prostituierten an ihren Zuhältern und die Rache der Lageropfer an ihren Henkern. Wo ist das Verbindungsglied?«
»Wir müssen abwarten, welche Namen Professor Herschel in Weimar uns bieten kann«, sagte Paul Hjelm. Danach sagten sie nicht mehr viel. Worte kamen ihnen so nichtig vor.
35
Arto Söderstedt hatte Weimar schon immer sehen wollen. Es war einer seiner heimlichen Träume, die zu verwirklichen Onkel Perttis Geld ihm helfen sollte. Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft würde er herkommen.
Dieser Besuch zählte nämlich nicht.
Er saß im Zug von Leipzig, wohin die Maschine aus Odessa ihn am Abend zuvor gebracht hatte. Er war in einem Hotel Fürstenhof abgestiegen und eingeschlafen, ohne die Schönheit des alten Patrizierpalastes zu genießen, und hatte einen Schluckauf bekommen, als ihm von einer wunderschönen Blondine, die auszuschimpfen er nicht das Herz hatte, die Hotelrechnung zugeschoben wurde. Er bezahlte folgsam und hoffte, daß die Rechnungsprüfer der Reichskriminalpolizei nicht allzu lautstark protestierten. Oder sollte er es wagen, die Rechnung an Europol in Den Haag zu schicken?
Dann war er die wenigen Schritte den Tröndlinring hinabgegangen, im milden, zentraleuropäischen Licht eines traumhaften Frühlingsmorgens, und in den Zug nach Weimar gesprungen, der jetzt über die Ebene glitt und die Grenze zwischen Sachsen und Thüringen in der früheren DDR passierte.
Während Orte wie Bad Kösen, Bad Suiza und Apolda vorüberflogen, las er die letzte Mail von Hultin, die er im Hotel Fürstenhof in Leipzig für eine Interntelefongebühr von bescheidenen fünfundvierzig D-Mark empfangen hatte. Sollte auch die Rechnung an Den Haag gehen? Wo verlief die gesamteuropäische Grenze für behördlichen Mißbrauch?
Er ließ die entsprechende Argumentation auf sich beruhen und fing an zu lesen.
Leonard Sheinkman war nicht Leonard Sheinkman.
Er war, so unangenehm es auch sein mochte, ein schwedischer SS-Arzt mit Namen Anton Eriksson.
Das also war des Pudels Kern.
Wie Goethe in Weimar gedichtet hatte.
An einer anderen Stelle des ›Faust‹ nannte er außerdem Leipzig ›Klein Paris‹, und als der Zug in den Hauptbahnhof von Weimar einfuhr, kam ihm Leipzig unweigerlich wie eine Metropole vor.
Weimar war nichts anderes als ein kleines Provinznest.
Dennoch war die Stadt im Jahr zuvor Kulturhauptstadt Europas gewesen. Goethe hatte auch die Gelegenheit genutzt und wurde zweihundertfünfzig Jahre alt.
Still going strong.
Auf dem Bahnsteig wartete eine kleine dunkle Frau von knapp dreißig Jahren. In der Hand hielt sie ein Schild mit den handgeschriebenen Worten ›Herr Söderstadt‹.
Wir sind auf dem richtigen Weg, dachte er, schleppte seinen unnötig schweren Koffer zu ihr
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