Tiefer Schmerz
1909 begründet, und es gab eine internationale rassenbiologische Gesellschaft, in der diskutiert wurde, wie man einen Übermenschen schaffen könnte. Als man 1912 in London einen Weltkongreß in großem Stil abhielt, hatte kein Geringerer als Winston Churchill den Vorsitz inne. 1918 schlug ein Professor von Karolinska Institutet die Einrichtung eines Nobel-Instituts für Rassenbiologie vor; die Zeit war noch nicht reif. 1921 wurde jedoch ein von Vertretern sämtlicher Reichstagsparteien unterschriebener Antrag eingebracht, ein rassenbiologisches Institut zu gründen, und der Schwedische Reichstag faßte mit großer Mehrheit einen entsprechenden Beschluß. Das Institut wurde am Neujahrstag 1922 eröffnet. Sein Leiter war Herman Lundborg. Man hatte sieben Angestellte und verfügte über Haushaltsmittel von sechzigtausend Kronen.
Herman Lundborg war der Auffassung, die nordische Rasse sei allen anderen überlegen, und mit den Jahren tendierte er immer deutlicher zu antisemitischen Standpunkten. Das Institut wurde gleichzeitig von Lundborgs Deutschfreundlichkeit durchdrungen. Mehrere Deutsche besuchten das Institut und hielten Vorlesungen, darunter Hans F. Günther, der bald darauf der Ideologe der Nazis in Rassenfragen wurde. 1932 wurde in New York der Weltkongreß der Internationalen Rassenbiologischen Gesellschaft abgehalten. Herman Lundborg nahm daran teil, auch die gesamte amerikanische Oberklasse war vertreten, mit Familien wie Kellogg, Harriman und Roosevelt im Mittelpunkt. Vorsitzender des Kongresses war Ernst Rüdin, jener Mann, der binnen kurzem Hitlers umfangreiches Sterilisierungsprogramm leiten sollte.
Zu dieser Zeit hatte das Schwedische Rassenbiologische Institut in Uppsala zu stagnieren begonnen, trotz seines fest verankerten internationalen Ansehens. Der Haushalt war auf dreißigtausend Kronen geschrumpft, und Lundborg war als Leiter nicht mehr tragbar. Im Juni 1936 wurde er durch Gunnar Dahlberg ersetzt, der in gewisser Weise die Ausrichtung des Instituts veränderte, und zwar von der Rassenbiologie fort zu Humangenetik und zur Kunst des social engineering. Dies führte nach und nach zu den berüchtigten Zwangssterilisierungen geistig Behinderter.
Anton Eriksson kam gegen Ende von Lundborgs Zeit ans Institut. Die rassenbiologischen und antisemitischen Gedanken wurden sein Credo, und als Dahlberg die Leitung des Instituts übernahm, faßte Eriksson die Kursänderung als einen Verrat an Herman Lundborgs Erbe auf. Ihn interessierte die medizinisch und chirurgisch ausgerichtete Rassenbiologie.
In dem Material aus Weimar war auch ein kurzer Text von Anton Eriksson enthalten, der im Frühjahr 1936 in der dem deutschfreundlichen Torsten Kreuger gehörenden Abendzeitung Aftonbladet erschienen war. Darin versucht Eriksson mittels einer ausschließlich klinischen Vorgehensweise die biologisch bedingte Unterlegenheit der Juden zu beweisen. Um seine These zu belegen, bezieht er sich auf Herman Lundborgs berühmte Skizzen von menschlichen Profilen.
Anfang 1937 verläßt Anton Eriksson Schweden, um in Berlin Medizin zu studieren. Als letztes heißt es von ihm, daß er am Kaiser-Wilhelm-Institut für Rassenhygiene tätig ist und daß er für die SS-interne Offiziersausbildung angenommen wurde.
Dann wird es still um den begabten Studenten aus Örbyhus. Sehr still.
Kerstin Holm und Paul Hjelm lasen die Akte zusammen. Sie schwiegen beide, und es gab keinen Abstand zwischen ihnen.
Sie spürten, wie sich vor ihren Augen die schwedische Geschichte veränderte. Wer hatte in der Schule hiervon gesprochen? Wer hatte sie aufgeklärt über das dunkle Erbe des human neutralen nordischen Landes?
Niemand.
Die schwarzen Löcher im Raum-Zeit-Kontinuum begannen sich zu füllen.
Und sie näherten sich dem Sand im Getriebe, dem grundlegenden Denkfehler.
Die Zeit legte sich zurecht.
Nicht zuletzt dank Arto Söderstedts frischer und merkwürdiger Information aus Odessa.
Nichts in dem, was sie gefunden hatten, deutete darauf hin, daß der zukünftige SS-Arzt Anton Eriksson Tendenzen zu Reue und Gewissensqualen gehabt hätte. Im Gegenteil, er zeigte sich als ›eiskalter Wissenschaftler‹.
Quälgeist 2.
Warum sollte dann dieser rational beherrschte, klinisch arbeitende Antisemit im Schmerzzentrum in Weimar gravierende Beweise zurücklassen? Zwar kein Foto – doch eine Menge an Material.
Warum?
Es gab nur eine denkbare Erklärung.
Er hatte einen bombensicheren Fluchtweg.
»Wann endet Leonard Sheinkmans Tagebuch?«
Weitere Kostenlose Bücher