Tiefer Schmerz
hinüber und streckte ihr die Hand hin.
Sie gab ihm einen schnellen, scharfen und scheuen Blick.
»Mein Name ist Elena Basedow«, sagte sie auf englisch mit überraschend tiefer Stimme. »Ich gehöre zu Professor Herschels Assistententeam.«
»Arto Söderstedt«, sagte Arto Söderstedt.
»Nicht -Stadt?«, sagte Elena Basedow und schaute auf ihr handgeschriebenes Schild.
»Nicht richtig«, sagte er. »More of a small village.«
Sie lächelte ein wenig in sich gekehrt. »Like Weimar«, sagte sie und machte eine ausladende Handbewegung.
»Hopefully«, sagte Söderstedt ein wenig hölzern.
Sie setzten sich in Bewegung. Es war noch immer ein sehr schöner zentraleuropäischer Frühlingsmorgen.
»Team?« sagte Söderstedt. »Hat der Professor viele Assistenten?«
»Nicht direkt«, sagte Elena Basedow. »Zur Zeit sind wir ein reines Forscherteam. Die Assistenten sind Doktoranden. Früher waren es wesentlich mehr.«
»Bei der Erforschung des Schmerzzentrums?«
»Ja, genau. Bis zum Herbst 1998 gab es eine ganze Reihe freiwilliger Studenten. Unbezahlte Geschichts- und Archäologiestudenten.«
»Hmm«, sagte Arto Söderstedt.
Sie blieben vor einem älteren Volkswagen Vento auf dem Parkplatz des Bahnhofs stehen.
Elena Basedow öffnete ihm die Tür und hob eigenhändig seinen unnötig schweren Koffer in den Kofferraum.
»Wir fahren zuerst dahin«, sagte sie und knallte den Kofferraumdeckel zu, daß der Wagen einen Satz machte.
»Er wartet dort.«
Weil ihm ihre Äußerung ein wenig kryptisch erschien, sagte Söderstedt: »Wohin?«
»Zum Schmerzzentrum. Es ist jetzt rundum erneuert. Eine IT-Firma hat das Gebäude übernommen, ohne zu ahnen, was dort während des Krieges geschah. Nicht daß sie sich etwas daraus machen würden …«
»Aber Sie machen sich etwas daraus«, sagte Söderstedt, während der Wagen das Bahnhofsgelände verließ und sich in Richtung des südlich gelegenen kleinen Stadtkerns bewegte.
Sie warf ihm einen schnellen, scheuen Blick zu. »Ja«, sagte sie. »Das tue ich.«
»Sie sind Jüdin«, sagte Söderstedt.
»Ich bin alles mögliche«, sagte Elena Basedow. »Zum einen bin ich verwandt mit dem von Rousseau beeinflußten Pädagogen Johann Bernhard Basedow, der im achtzehnten Jahrhundert gelebt hat. Zum anderen bin ich halbe Griechin. Und dann bin ich Jüdin. Ja.«
»Eine Mischung vom Besten«, sagte Söderstedt und kam sich abstoßend reinrassig vor.
Wieder warf sie ihm einen dieser schnellen, scheuen Blicke zu.
»Da ist es«, sagte sie und zeigte nach vorn.
In einer kleinen, etwas abseits gelegenen Straße nördlich des eigentlichen Stadtkerns lag ein Gebäude von plastik artigem Aussehen, als wäre es kandiert und mit Zuckerglasur überzogen. Ein Stück weit entfernt ragte der sechskantige, total renovierte schwarze Turm der Jakobskirche auf.
›Ich sehe die Zeit.‹
Von den Kellerfenstern des Glasurgebäudes aus war der Kirchturm in seiner vollen Höhe sichtbar.
Vor dem kandierten Haus, an dem ein eiscremefarbenes Schild OUD Systeme verkündete, wartete ein aufrechter, gutgekleideter Mann im Anzug.
Er trat ohne zu zögern an die Beifahrertür des Vento und öffnete sie dem Gast. »Professor Ernst Herschel«, sagte er und streckte die Hand aus.
Bei Arto Söderstedts Anblick erstarrte er, einen kurzen Augenblick zwar nur, doch genug, um den Detektiv in Arto Söderstedt reagieren zu lassen. Weil Herschels Miene sich unmittelbar darauf wieder normalisierte, beschloß Söderstedt abzuwarten.
Aber er fühlte sich nicht richtig wohl in seiner Haut.
Kürzlich hatte jemand gesagt: ›Ich muß gestehen, daß ich eine Art von Schock bekommen habe, als Sie eingetreten sind.‹
Die Unruhe saß ihm im Hinterkopf, als er aus dem Wagen kletterte und dem Zeigefinger des Professors zu dem kandierten Gebäude folgte.
»So sieht es also jetzt aus«, sagte Ernst Herschel in lockerem Ton. »Die neue Zeit hüllt alles ins Blattgold der Vergessenheit.«
Dann setzte er sich auf die Rückbank des Wagens. Söderstedt kletterte wieder hinein. Der Vento fuhr davon.
»Wir fahren nach Süden zur Hochschule für Architektur und Bauwesen«, erklärte Herschel. »Ich habe dort noch mein altes Arbeitszimmer. Ich gehöre also der Universität Jena an, zwanzig Kilometer östlich von hier. Weimar hat keine Universität, aber dafür eine Anzahl von kleineren Hochschulen. Eine von ihnen hat uns für das Projekt Räume zur Verfügung gestellt.«
Der Wagen fuhr an dem mächtigen Schloß vorbei, das wirkte, als
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