Tiefer Schmerz
gleiche Bewegung wie vorhin am Wagen. In Arto Söderstedts Innerem hallte das Echo von Marco di Spinellis Stimme wider: ›Ich muß gestehen, daß ich eine Art von Schock bekam, als Sie eintraten, Signor Sadestatt. Sie erinnern mich nämlich an einen Menschen, den ich vor einer Ewigkeit kannte, im Anbeginn der Zeiten.‹ Und er sah ein Bild, das Foto eines stattlichen Mannes mit leuchtendhellem Gesicht, der fest verankert mit der Hand am Säbel in einer Schneewehe stand. Und das Bild war nicht nur imponierend, es war auch bekannt.
Bemerkenswert gut bekannt.
Er seufzte tief, während ihm das Foto des dritten Mannes aus dem Schmerzzentrum hingehalten wurde. Er wußte, daß er sich selbst begegnen würde.
Und so war es.
Der Mann auf dem Bild war Arto Söderstedt selbst.
Ein Schauder durchfuhr ihn.
»Eine bemerkenswerte Ähnlichkeit«, sagte Ernst Herschel.
Arto Söderstedt stürzte aus dem Zimmer.
36
Auf dem Flug von Leipzig nach Mailand gelang es ihm endlich, ein wenig Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Da hatte die schlimmste Wut und das schlimmste Entsetzen sich schon etwas gelegt.
Aber es war vollkommen klar.
Es gab keinerlei Ausflüchte.
Er fühlte sich aus dem Paradies vertrieben.
In Finnland genossen die finnischen SS-Männer die gleichen Rechte wie alle übrigen Kriegsveteranen. Da der Finnische Winterkrieg ein Kampf gegen die ins Land eingefallene Sowjetunion war, war es natürlich, daß die Widerstandskämpfer sich dem Gegner der Sowjetunion zuwandten, also Deutschland. Zahlreiche Kämpfer aus dem Winterkrieg gingen später in der SS auf. Gedenkfeste waren an der Tagesordnung.
Ein gutes Jahr zuvor war es zu einem internationalen Skandal gekommen, als der Verein zum Gedenken der Gefallenen die Absicht kundtat, für die in der Ukraine gefallenen finnischen und deutschen SS-Männer einen Gedenkstein aufzustellen, und gerade kürzlich hatte die jüdische Gemeinde in Helsinki gegen eine ganz spezielle Veranstaltung protestiert. Zu einer finnischen SS-Feier hatten die Veteranen deutsche Kollegen eingeladen. Sollte Finnland tatsächlich offiziell deutsche SS-Veteranen einladen, alte deutsche Nazis aus der Organisation, die für die systematische Ausrottung von Millionen von Juden in Europa verantwortlich war?
Die jüdische Gemeinde fand dies ein wenig schwer verdaulich.
Es war also nichts Ungewöhnliches, daß finnische Kämpfer aus dem Winterkrieg sich der SS anschlossen. Sie waren von der finnischen Regierung als Kriegsveteranen offiziell sanktioniert worden.
Pertti Lindrot, der Onkel von Arto Söderstedts Mutter, war ein junger, enthusiastischer Landarzt, als er beim plötzlichen Einfall der Sowjetunion in den Finnischen Winterkrieg hineingezogen wurde. Er zeigte eine große Schwäche für den Guerillakrieg in winterlichen Wäldern und wurde mehrfach befördert. Nach einigen entscheidenden Schlachten wurde er zum Helden und verschwand beim Sieg der Russen in den Wäldern wie ein klassischer Guerillero. Bei Kriegsende tauchte er wieder auf, mehr oder weniger gebrochen. Trank immer mehr, konnte sich auf verschiedenen Arztstellen in immer versteckteren Provinznestern nicht halten, kehrte schließlich nach Vasa zurück und wurde ein Original, das bis ins hohe Alter von neunzig Jahren sein trauriges Leben führte.
Jetzt wußte Arto Söderstedt, was Onkel Pertti nach dem Sieg der Sowjetunion im Finnischen Winterkrieg gemacht hatte.
Der junge Landarzt war SS-Offizier geworden.
Er war einer der Verantwortlichen für das Schmerzzentrum in Weimar geworden. Und er sah seinem Großneffen sehr, sehr ähnlich.
Und er hatte es nicht gern getan. Quälgeist 1, laut Paul Hjelms schematisierter Übersicht: ›Sehr blond, nicht deutsch, traurig‹. Leonard Sheinkmans Worte vor seinem Tod: ›Der freundlichste von ihnen. Er ist weniger deutsch als ich und sehr blond. Und er sieht sehr traurig aus. Er tötet mit Trauer in den Augen.‹
Onkel Pertti hatte es nicht gern getan, doch das Zahngold hatte er genommen. Und weitergegeben.
Und auf einem Fundament von jüdischem Zahngold hatte jetzt Arto Söderstedt sein toskanisches Paradies gebaut.
Er spürte, wie er blaß wurde.
Sein Paradies war mit den ausgebrochenen Zähnen Hunderter ermordeter Leonard Sheinkmans bezahlt.
Er mußte zur Flugzeugtoilette laufen und sich übergeben. Ihm war, als käme es eimerweise. Er kotzte seinen ganzen Abscheu, sein ganzes Entsetzen, seine ganze Angst, sein ganzes zerrissenes Gewissen aus sich heraus.
Ich trample auf ihren
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