Tiefer Schmerz
hineinkommt, führen drei Rohre durch verschiedene Schächte zu drei Stellen im Palast. Der nächstgelegene führt zur Küche, doch das ist viel zu weit entfernt vom Kern der Zwiebel. Der hinterste führt zum Vorzimmer des großen Salons, und auch das ist zu weit weg, nur auf der anderen Seite. Der mittlere Schacht dagegen endet in einer kleinen Pantry, die zu di Spinellis geheimstem Raum gehört. Seine drei persönlichen Leibwächter wissen davon, du hast sie schon getroffen. Und natürlich sein Privatsekretär.«
»Das Glasauge«, sagte Söderstedt.
»Ganz genau«, sagte Marconi unerwartet. »Marco di Spinellis geheimer Raum ist der Ort, an dem er all die Jahre über Prostituierte empfangen hat. Das Liebesnest. Von der Pantry abgesehen gibt es nur eine Tür in diesem Liebesnest, und die führt zu seinem Büro.«
»Ich habe in seinem Zimmer nur eine Tür gesehen, und die führte zum Zimmer des Privatsekretärs. Das, durch das ich hineingekommen bin.«
»Die Tür zur Pantry befindet sich hinter den großen Wandteppichen aus dem sechzehnten Jahrhundert.«
»Und um dorthin zu gelangen, muß man also durch einen Müllschacht zehn Meter senkrecht in die Höhe klettern?«
»Sieben«, sagte Italo Marconi. »Sieben Meter senkrecht nach oben, dann noch zehn Meter, die ein bißchen schräg sind, am Anfang und am Ende. Rein theoretisch würde ich kräftige Kletterschuhe empfehlen und einen sehr dicken Pullover mit hoher Reißfestigkeit und verstärkten Ellenbogen. Der Deckel des Müllschachts muß von innen mit einem Schraubenschlüssel geöffnet werden.«
»Und was zum Teufel soll ich da?«
»Du?« sagte Marconi und fixierte Söderstedt. »Wer in Dreiteufelsnamen hat denn von dir gesprochen?«
Dann machte er eine Pause, seufzte und fuhr fort: »Dir ist etwas gelungen, was seit langem niemandem gelungen ist. Du hast Marco di Spinelli aus dem Gleichgewicht gebracht. Ich weiß nicht, wie du es gemacht hast, aber du hast es gemacht. Wir müssen in dem Topf umrühren, und du könntest der Löffel sein, nach dem wir so lange gesucht haben. Rein theoretisch also.«
»Und die Erinnyen?«
»Tja. Für uns bleiben sie ja eine eher abstrakte Geschichte. Du kannst vielleicht auch denen einen Strich durch ihre Rechnung machen.«
Als Arto Söderstedt an jenem Tag Italo Marconis Büro verließ, hatte er nicht im allergeringsten mit dem Gedanken gespielt, sich kräftige Kletterschuhe und einen Pullover mit hoher Reißfestigkeit und verstärkten Ellenbogen anzuschaffen – mit so etwas gaben sich Viggo Norlander und Gunnar Nyberg ab.
Jetzt war alles anders. Schon in Leipzig hatte er kräftige Kletterschuhe und einen sehr dicken Pullover von hoher Reißfestigkeit mit verstärkten Ellenbogen gekauft.
Und jetzt war ihm auch klargeworden, warum es ihm gelungen war, Marco die Spinelli aus dem Gleichgewicht zu bringen. Es war nur teilweise sein Verdienst. Sein Aussehen spielte auch eine gewisse Rolle. Er war zu Hause bei Hans von Heilberg aufgetaucht – der seit einem halben Jahrhundert nicht mehr Hans von Heilberg war – und hatte ihm seine beiden Kumpane aus dem Schmerzzentrum gezeigt: zunächst, in seiner eigenen Gestalt, Pertti Lindrot, dann, in Leonard Sheinkmans Gestalt, Anton Eriksson. Wie sie damals ausgesehen hatten.
Es war klar, daß er aus dem Gleichgewicht gekommen war.
In Marco di Spinellis Person vereinten sich die beiden Rachemotive. Als Hans von Heilberg, Leiter des Schmerzzentrums in Weimar, hatte er zahlreiche Menschen erniedrigt und ermordet. Als Marco di Spinelli, Chef des Verbrechersyndikats Ghiottone in Mailand, hatte er ebenfalls zahlreiche Menschen erniedrigt und ermordet.
Er war ein zutiefst verachtenswerter Mensch.
Auch die Erinnyen vereinten in sich die beiden Rachemotive, so viel war ihm klar. Aber wie? Es fehlte eine Frau, die zweifach Opfer des Bösen geworden war, das von dem Ghiottone-Boß ausging. Zuerst von ihm als Hans von Heilberg, danach von ihm als Marco di Spinelli.
Diese Frau wußte außerdem, daß der alte Professor in Stockholm nicht Leonard Sheinkman hieß und der alte Mafiaboß in Mailand nicht Marco di Spinelli.
Die Führerin der Erinnyen war eine jüdisch-ukrainische ehemalige Prostituierte mit Kontakten zum Forscherteam in Weimar.
Arto Söderstedt bewegte sich nicht und wagte kaum zu atmen. Dies alles mußte sich setzen.
Dann nickte er und nahm eine Akte zur Hand.
Eine Akte aus Odessa.
Die Akte Kouzmin. Franz Kouzmins trauriges Leben lag aufgeschlagen vor ihm, und Söderstedt
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