Tiefer Schmerz
betrachtete.
»Eine von denen, wie die Polizei sie gern benutzt, wenn sie nicht für die Polizei gehalten werden möchte. Aus irgendeinem Grund nehmen sie immer die gleiche.«
Er reichte dem Gorilla die Pistole zurück und sagte nonchalant: »Ich nehme an, sie lag in dem Umschlag.«
Arto Söderstedt schloß die Augen und verstand. Er fühlte, wie ihm das Blut aus dem Mund lief, und fragte sich, wie viele Zähne wohl ausgeschlagen waren.
Und mit einer Klarheit, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, erkannte er, daß er niemals seinen kleinen Nachzügler zu Gesicht bekommen würde.
»Aber das begreifen Sie wohl«, sagte di Spinelli, »daß wir diesen ekelhaft unbestechlichen Marconi jahrelang gefilmt haben. Wir sind Ihnen nach Odessa und nach Leipzig gefolgt, und von da nach Weimar und zurück nach Mailand. Es hätte Ihnen ja etwas zustoßen können.«
»Hans von Heilberg«, zischte Söderstedt.
»Jaja«, sagte di Spinelli gelangweilt. »Aber Marconi hatte vollkommen recht damit, daß Sie mich bei Ihrem ersten Besuch tatsächlich überrascht haben. Ich hatte ja den Film aus Marconis Büro gesehen, aber Sie saßen mit dem Rücken zur Kamera, also sah ich Ihr Gesicht nicht. Das überraschte mich. Außerdem machten Sie einen ungewöhnlich mediokren Eindruck. Dann wurde mir ja klar, daß das eine Maske war. Sie waren nicht ungewöhnlich medioker, nur medioker. Und das ist in gewisser Weise noch trister.«
»Und die Erinnyen?« fauchte Söderstedt.
»Osteuropäische Konkurrenz«, sagte di Spinelli achselzuckend. »Davon gibt es inzwischen reichlich. Aber damit werden wir schon fertig. Bald erwischen wir sie. Sie verlieren in der Regel die Geduld. Doch wir haben ein weiteres Fragezeichen geradezubiegen, Signor Sadestatt.«
»Wie es kommt, daß ich dem SS-Arzt Pertti Lindrot im Schmerzzentrum in Weimar so ähnlich bin?«
»Ja, wieso?«
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, sagte Söderstedt. »Beide sind tot. Pertti Lindrot hat den Rest seines Lebens dazu benutzt, sich totzusaufen. Anton Eriksson war später jüdischer Professor, wurde mit dem Kopf nach unten aufgehängt und bekam eine Metallnadel ins Gehirn.«
»Sieh einmal an«, sagte di Spinelli. »Aber Sie haben nicht auf meine Frage geantwortet.«
»Das gedenke ich auch nicht zu tun«, sagte Söderstedt einfach.
Und plötzlich fühlte er eine Art gleitender Gegenwart im Palast. Und er lächelte breit ob di Spinellis Kaspereien am Rand des Ruins.
»Für den Fall ist es an der Zeit, ein paar alte Erinnerungen wachzurufen«, sagte Hans von Heilberg und griff nach einer kleinen Schachtel von dem Typ, in dem man wertvolle Halsbänder aufbewahrt. »Ein Kleinod für Sammler«, sagte er und holte eine lange, schmale, steife Metallnadel aus der Schachtel. Er bog sie ein wenig, wie ein Fechtmeister vor dem Gefecht seinen Degen biegt.
Dann starben seine drei Gorillas.
Die Nadel federte zurück, und Marco di Spinelli schaute verwundert auf seine drei durchschossenen Fleischberge.
Ein Huschen bei der Türöffnung zum Liebesnest. Wie Luftspiegelungen. Es war vollkommen leer dort draußen. Außer einer vagen Bewegung war nichts zu merken gewesen.
»Ihr bewegt euch schnell, Magda«, sagte Arto Söderstedt in die Leere hinaus.
Es blieb leer und still. Marco di Spinelli starrte in das stumme Dunkel des Raums, in dem er jahrzehntelang Prostituierte empfangen hatte. Möglicherweise war da zumindest eine Spur von Erschrecken in seinen stahlgrauen Augen. Er griff die großkalibrige Pistole eines der Gorillas und schlich hinüber in sein Liebesnest. Er verschwand um die Ecke.
Söderstedt hörte ihn.
Er hörte ihn sterben.
Marco di Spinelli schrie nicht, das wäre unter seiner Würde gewesen, doch er gab ein Röcheln von sich, und das Röcheln ließ vernehmen, daß er schon zu lange gelebt habe.
Viel zu lange.
Er hing mit dem Kopf nach unten am Kristalleuchter in seinem wunderschönen Büro. Er hing dort als ein bedeutend moderneres Kunstwerk neben den Meisterwerken von Leonardo und Piero della Francesca und den großen Wandteppichen aus dem sechzehnten Jahrhundert. Ein sehr schwaches Mondlicht schien durch das Fenster herein, an dem der Marquis Perduto gesessen und seine berühmten Sonette an die kleine Amelia komponiert hatte, der er im Alter von acht Jahren begegnet war und die er nie zu vergessen vermochte.
Arto Söderstedt stand neben di Spinelli. Die Pistole hing an seiner Hand, wie Marco di Spinelli an seinem vollendeten Kronleuchter hing.
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