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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Baumelnd. Es gab nichts, worauf er die Pistole hätte richten können. Der Raum war leer. An anderen Stellen des Gebäudes saßen Wachmannschaften und spielten Karten. Sie wußten noch nicht, daß sie arbeitslos waren.
    Er trat näher und betrachtete Hans von Heilbergs Gesicht. Wie dieser selbst Hunderte von Opfern betrachtet hatte, deren Zahngold sein Bankgeschäft begründet hatte, das wiederum sein Imperium des Verbrechens begründet hatte.
    Alles ging Hand in Hand.
    Hans von Heilbergs Polokragen war abgeschnitten. Ein lilafarbenes, rhombenförmiges Muttermal leuchtete auf der weißen Haut.
    Aus seiner Schläfe ragte eine lange, scharfe, steife Nadel, und das Stahlgraue in seinen Augen war geborsten vor Schmerz.
    Die Zeit begann, sich langsam wieder zurechtzudrehen.
    »Magda, bist du da?« sagte Söderstedt und betrachtete das ausgelaufene Grau im Weißen von di Spinellis Augen.
    Ein weiches Gleiten in seinem Rücken bekräftigte, daß sie da war.
    Sie waren alle da.
    Doch als er sich umwandte, war niemand zu sehen.
    Er lächelte.
    Dann sagte er, geradewegs in den Raum hinein, ins Unbegreifliche hinein: »Danke.«

38
    Es war Hochsommer in Stockholm.
    Die Sonne stand niedrig, und der Himmel war blau auf eine ungewöhnlich dunkle Weise. Dennoch war es keineswegs so, als hätte ein Bühnenbildner in der Oper versucht, Natur zu imitieren.
    Es war vielleicht nicht richtig Natur, aber auf jeden Fall war es naturähnlicher als vorher.
    Als einige Wochen vorher.
    Und Natur ist die schreckliche, grausame Wahrheit.
    Als Paul Hjelm das vorige Mal im Bofinksväg in Tyresö gewesen war, hatte er ein langes, eingehendes und offenes Gespräch mit Leonard Sheinkmans Sohn geführt. Obwohl Leonard Sheinkmans einziger Sohn gerade hier vor zwanzig Jahren gestorben war. Der Mann, mit dem Hjelm gesprochen hatte, war nicht der Sohn Leonard Sheinkmans. Es war der Sohn des Massenmörders und Nazis Anton Eriksson. Er war ein jüdischer Mann mit Namen Harald Sheinkman und sollte jetzt über den wahren Sachverhalt aufgeklärt werden.
    Daß sein Vater nicht Jude gewesen war, sondern Nazi.
    Daß sein Vater nicht Opfer gewesen war, sondern Henker.
    Daß sein Vater nicht sein eigenes Tagebuch geschrieben, sondern es gestohlen hatte, um es für Hintergrundstudien und zur Autosuggestion zu benutzen.
    Daß sein Vater damit experimentiert hatte, wie der denkbar größte Schmerz herbeigeführt werden konnte, indem er in einem alptraumartigen Keller in Weimar eine Versuchsperson nach der anderen umbrachte.
    Daß sein Vater Frauen und Kinder ermordet hatte.
    Wie weit erstreckten sich die Möglichkeiten der Versöhnung?
    Schmerzzentrum.
    Die Klänge von Miles Davis’ Kind of Blue rollten durch den alten Audi. Und genau so fühlte sich Paul Hjelm.
    Kind of Blue.
    Er sagte: »Was machst du gerade durch?«
    Kerstin Holm wandte sich ihm zu und betrachtete ihn.
    Ihre eigene Krise war in den Hintergrund getreten. Ihre Gedanken waren von den Erinnyen erfüllt. Es war für nichts anderes Platz.
    Sie schufen Gerechtigkeit, ihre eigene Form von Gerechtigkeit. Diese Gerechtigkeit bestand in Rache, nicht mehr und nicht weniger. Sie rächten ungerächtes Unrecht.
    Doch was unterschied sie dann von einer staatlich sanktionierten Todesstrafe?
    Sie wußte es nicht. Manchmal kamen sie ihr faschistoid vor. Manchmal als rechtmäßige Rächerinnen. Manchmal als die einzigen wirklichen Freiheitskämpfer. Dann wieder als reine Terroristen. Manchmal als abgedrängte, aber lebensnotwendige mystische Kräfte.
    Nur eins war klar: Die Erinnyen würden nie Eumeniden werden. Sie würden sich von der gegenwärtigen Leichtgewichtsgesellschaft niemals neutralisieren lassen.
    So sah das westliche Leben aus – leichtgewichtig, leichtlebig, leicht verdaulich, leicht gefickt. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Eine amerikanische Existenz light. Mit chemischen Süßmitteln, die unendlich viel schneller töten als richtiger Zucker.
    Und so sah ihre Krise aus. Ihre – Metamorphose. Auch wenn das Wort ihr ein bißchen hochgestochen vorkam. Anmaßend – und wenn man eines nicht sein durfte, dann anmaßend. Da verlief die Grenze. In jeder Hinsicht.
    Was sie suchte, war die Freizone, wo die Urkräfte ungehindert aufsteigen und sich entfalten konnten. Zu dieser Blase, die wir immer gern zum Platzen bringen, bevor sie zu groß wird. Dieser Blase, deren virtuelle Gegenwart sie jedesmal fühlte, wenn sie mit dem Chor in der Kirche stand und die Töne zu den hohen Gewölben aufsteigen

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