Tiefer Schmerz
Gespräch umgedreht zu haben. Auch wenn Kerstin es natürlich sofort durchschaute.
»Ich komme allein«, sagte Kerstin Holm und schwenkte mit dem alten Volvo an der Västberga- Auffahrt auf die E 4 ein. »Wenn das in Ordnung ist.«
Damit war das Gespräch beendet.
Eine Weile war es still. Beide suchten nach einem Gesprächsthema. Es ging nicht ganz von selbst. Manchmal war es ein wenig zu heikel. Sara wußte, daß Kerstin vor Urzeiten etwas mit dem verheirateten Paul Hjelm gehabt hatte, der der Partner und beste Freund ihres eigenen Mannes Jorge Chavez war.
Manchmal war es ein Fettnäpfchenslalom.
»Ist es wahr, daß er der einzige Kanake im Viertel ist?« sagte Kerstin Holm schließlich.
Das brach das Eis. Sie lachten eine Weile. Frauenlachen. Ein gutes Gefühl.
»Es ist ganz, ganz wahr«, sagte Sara Svenhagen und wechselte die Richtung: »Wohin fahren wir eigentlich?«
»Nullcheck«, sagte Kerstin und lachte kurz. »Wir fahren zum Norrboda-Motel in Slagsta. Die Flüchtlingsunterkünfte sind voll, und die Einwanderungsbehörde hat das Motel gemietet. Seit heute morgen werden im Norrboda-Motel ein paar Flüchtlinge vermißt. Und weil von dem ganzen Laden da unten ein Duft von internationaler Kriminalität aufsteigt, haben sie uns den Fall aufs Auge gedrückt. Wenn es denn ein Fall ist. Noch Fragen?«
»Was denn für ein Duft?«
»Das Motel da unten hat sich anscheinend ein bißchen weit in Richtung Selbstversorgung entwickelt. Es ist vor allem mit Warenschmuggel in Verbindung gebracht worden, das betrifft hauptsächlich Russen und Balten. Aber es ist auch von Prostitution die Rede gewesen. Und einige von denen, die jetzt vermißt werden, sind gerade der Prostitution verdächtigt worden.«
»Es geht also um eine Gang von Huren, die untergetaucht sind?«
Kerstin Holm schnitt eine Grimasse. Sie passierten Skärholmen, der Mainachmittag war kühl geworden, aber immer noch schön. »Darauf deutet einiges hin«, räumte sie widerwillig ein.
»Und wer hat sie als vermißt gemeldet?«
»Der Vorsteher, allem Anschein nach. Der offenbar selbst unter gewissem Verdacht gestanden hat. Ein Jörgen Nilsson.«
»Unter welchem Verdacht?«
»Nichts zu sehen, nichts zu hören, nichts zu sagen. Aber die Verdachtsmomente sind jetzt ausgeräumt. Diese Vermißtenmeldung ist wohl eine Methode, unter Beweis zu stellen, daß er auf der richtigen Seite steht.«
Sara Svenhagen lehnte sich in den durchgesessenen Beifahrersitz des alten Volvos zurück. Sie mußte sich eingestehen, daß sie die Prinzipien der schwedischen Einwanderungspolitik nicht ganz verstand. Aus gewissen Ländern, vor allem EU-Ländern, war es offenbar möglich, ziemlich unbehindert einzuwandern. Es ging schnell, die schwedische Staatsangehörigkeit zu bekommen. Aus anderen Län dern einzuwandern schien dagegen einfach unmöglich zu sein. Um eine Chance zu haben, mußte man Asyl beantragen und sich als Flüchtling bezeichnen. Und dann mußte man darauf achten, unterwegs keine anderen Länder zu besuchen. Gelang einem dieses Kunststück – das wiederum immer mehr Todesopfer forderte, die in Containern erstickten oder in Kielräumen verdursteten –, landete man in einer Flüchtlingsunterkunft, während der Fall geprüft wurde. Das Zusam-menwirken von immer mehr Asylsuchenden, immer restriktivren Vorschriften und immer einschneidenderen Personaleinsparungen bewirkte, daß die Wartezeiten ständig länger wurden, die Flüchtlingsunterkünfte überfüllt waren und die Unterbringung in angemieteten Lokalen stattfand, häufig zweitklassigen Hotels und Jugendherbergen. Dort saßen Menschen mit grauenvollen Erlebnissen im Gepäck jahrelang und konnten verschimmeln. Sara begriff nicht, wie man erwarten konnte, letztere jemals zu mündigen Staatsbürgern erklären zu können – noch begriff sie, wie es kam, daß es trotz allem so vielen tatsächlich gelang.
Sie hatte versucht, sich durch Lesen schlau zu machen. Keiner konnte der Frage mehr ausweichen. Die staatliche Einwanderungsbehörde sollte am 1. Juli dieses Jahres auf den Namen Migrationsbehörde umgetauft werden. Dem lag der Gedanke zugrunde, eine umfassende Sicht auf die Migration zu schaffen, die Wanderungsbewegungen und die Flüchtlingspolitik, die Einwanderungspolitik, die Integrationspolitik und die Rückführungspolitik in die Migrationspolitik einzubeziehen. Die Rückführungspolitik war eine Neuschöpfung der letzten Zeit. Der Gedanke an provisorische Flüchtlinge war erst in den letzten Jahren aktuell
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