Tiefer Schmerz
Her mit den Schlüsseln traten sie in das erste Zimmer ein, 224. Zwei ungemachte Betten an den Längswänden, ein leerer Schreibtisch, weit offenstehende leere Kleiderschränke, grauenhafte Leuchtröhren an der Decke, und überall die pißgelbe Auslegeware und die vergilbte Textiltapete. Eindeutig hatte die Atmosphäre nicht zum Service des Bordells gezählt. Hier war purer Sex verkauft worden, und nichts anderes. Sogar die Leselampen waren Leuchtstoffröhren.
Sie blieben einen Augenblick stehen und überlegten.
»Was sagt die Intuition?« fragte Kerstin ebenso sich selbst wie Sara. »Lohnt es sich, die Spurensicherung zu rufen? Sind diese Frauen nur abgehauen? Oder ist ihnen etwas passiert? Sara?«
»Fingerabdrücke, Sperma …«, dachte Sara laut. »Ja, du … sehen wir uns erst die anderen Zimmer an?«
Die anderen Zimmer waren merkwürdig identisch. Tatsächlich waren sie kaum voneinander zu unterscheiden. Es war wie ein klassischer Alptraum: Welche Tür man auch öffnete, man gelangte in ein und dasselbe Zimmer.
Sie wußten, daß es einer großen Zahl langer Verhöre bedurfte, um überhaupt eine Ahnung zu bekommen, was geschehen war. Und dann würde es für die Techniker zu spät sein. Sie mußten ihrer Intuition folgen. Die Atmosphäre der Zimmer einatmen. Versuchen, eine kleine Spur dessen einzufangen, was hier geschehen war.
Sie dachten an das Dekret von höherem Ort – will heißen, von ihrem Abteilungschef bei der Reichspolizeibehörde, Waldemar Mörner –, das dem Personal auferlegte, die Dienste des Staatlichen Kriminaltechnischen Laboratoriums so wenig wie irgend möglich in Anspruch zu nehmen, weil deren Preise, Zitat, ›nicht nur gesalzen, sondern total überteuert‹ waren.
So standen sie noch eine Weile und sogen die Atmosphäre auf. Dann nickten sie, beide gleichzeitig.
»Tja«, sagte Kerstin Holm. »Richtig normal ist das nicht.«
»Nein«, sagte Sara Svenhagen. »Richtig normal ist es nicht.«
Also wurde die Spurensicherung hinzugerufen. Das war gar nicht so einfach. Sie waren anderweitig beschäftigt.
»Skansen?« rief Kerstin in ihr Handy. »Was zum Teufel machen sie denn da? Vielfraßkacke?? Jaja, die haben wohl ihren Ellroy gelesen …«
Sie knipste das Gespräch mit ihrem Chef, Kriminalkommissar Jan-Olov Hultin, aus und schüttelte den Kopf. Es tat immer noch ein bißchen weh, wenn sie den Kopf schüttelte. Vor einem knappen Jahr hatte sie einen Streifschuß abbekommen, so daß ihre Schädeldecke an der linken Schläfe nur noch hauchdünn war. Das Haar weigerte sich, dort zu wachsen. Sie befingerte unmerklich die kahle Stelle, die das zerzauste schwarze Haar nur mit einer gewissen Mühe zu überdecken vermochte.
»Frag nicht«, war alles, was sie sagte, als sie die Türen wieder abschlossen und die Treppe hinuntergingen.
Als sie ins Büro des Heimleiters eintraten, hatte Jörgen Nilsson schon an die zehn A4-Bogen beschrieben. Sie wechselten einen Blick und stöhnten.
Es würde ein langer Nachmittag werden.
6
Kriminalkommissar Jan-Olov Hultin saß in einem Stau und versuchte auszurechnen, einen wie großen Teil seines Lebens er schon in Staus gesteckt hatte. Als die Zahlen in astronomische Höhen zu steigen begannen, stellte er die Tätigkeit ein.
Allem Anschein nach hatte er mehr als ein Jahr in Staus verbracht. Der Gedanke war unerträglich. Er war dreiundsechzig Jahre alt, und von diesen dreiundsechzig Jahren hatte er mehr als eins in Autoschlangen festgesessen. Das war wohl, was man als Fortschritt bezeichnete.
Bei Norrviken in Sollentuna bog er auf die E4 ab, denn er wohnte auf einem äußerst begehrten Strandgrundstück am See Ravalen. Immer wieder tauchten schwer kriminelle Immobilienmakler auf und versuchten, das Grundstück zu einem Spottpreis zu kaufen. Den letzten hatte er mit einer spitz geschliffenen Harke davongejagt. Der schwer kriminelle Immobilienmakler hatte sich in die Hosen gemacht und mit tränenerstickter Stimme geschrien: »Harkenmörder!« Danach hatte Jan-Olov Hultin den ganzen Tag bereut. Es war noch kein Jahr her, daß er einen Menschen getötet hatte. In einem Hotelzimmer in Skövde. Außerdem hatte er einem unbewaffneten Mann seine Dienstpistole in den Mund gedrückt, und es hatte nicht viel gefehlt, daß er auch ihn erschossen hätte. Arto Söderstedt hatte ihn gehindert. Das war eine Schuld, die er wohl kaum würde zurückzahlen können. Ihm ohne Umstände zwei Monate Dienstbefreiung zu bewilligen war eine Selbstverständlichkeit gewesen –
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