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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Verwunderung. Hjelm hielt die Kunstpause lange genug durch, daß der Kollege anfing, sich zu winden.
    Naja, es war kindisch …
    »Um zweiundzwanzig Uhr vierzehn gestern abend wurde die zehnjährige Lisa Altbratt von einer Neunmillimeterpistolenkugel in den Arm getroffen, als sie den Sirishovsväg hinunterging.«
    »Und wo liegt der Sirishovsväg?« fragte Chavez.
    »Es ist eine Querstraße vom Djurgårdsväg, die von Rosendal herunterkommt.«
    »Die Skansen-Karte«, sagte Chavez. Hjelm zog die ziemlich zerfledderte Karte aus der Innentasche seines Leinenjacketts. Chavez strich sie mit der Hand glatt und betrachtete sie.
    »Hier geht der Sirishovsväg«, sagte Hjelm und zeigte drauf.
    »Wo befand sich Lisa Alstedt, als sie angeschossen wurde?«
    »Altbratt«, sagte Hjelm. »Hier ungefähr.«
    Er zeigte auf einen Punkt kurz vor der Einmündung von Sirishovsvägen in den Djurgårdsväg, nicht weit von Oakhill und der Italienischen Botschaft. Und direkt daneben verlief der Zaun von Skansen.
    »Hmmm«, sagte Chavez, der die Unart hatte, sich wie Sherlock Holmes anzuhören, wenn er dachte. »Lisa Altbrunn hier, Kreuz, der Vielfraßmann hier, Kreuz.«
    »Altbratt«, sagte Hjelm und folgte mit den Augen Chavez’ Bleistift.
    Chavez fuhr fort: »Die Kugel?«
    »Rechter Arm auf dem Weg hinunter zum Djurgårdsväg.«
    »Also von irgendwo innerhalb des Skansen-Zauns. Hier. Kommt man hier rüber? Was ist dahinter?«
    »Was steht da? Wölfe?«
    »Genau: da. Ja, Wölfe. Hier.«
    Hjelm folgte dem Bleistift, der sich von der Skansen-Karte zum Fenster von Bredablick und zu dem realen Skansen bewegte. Hjelm erkannte das Labyrinth des Bärenfelsens, und sein Blick ging weiter, vorbei an Pferden und Luchsen und Wildschweinen und Büffeln, weiter am Gehege der Vielfraße vorbei, wo die rot-weißen Plastikbänder im Morgenwind vibrierten, bis er das weitläufige Wolfsgehege erreichte. Der Zaun war zwar hoch, schien aber nicht unüberwindbar zu sein. Obwohl an seiner oberen Kante schräg nach außen abgewinkelt Stacheldraht verlief.
    Paul Hjelm nickte. Ein fast schadenfrohes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ich glaube, daß Brunte seinen Untersuchungsbereich um eine Spur ausweiten muß. Willst du es ihm sagen?«
    »Mit dem größten Vergnügen«, sagte Jorge Chavez und grinste.

4
    Professor emeritus. Er hatte sich an den Titel nie richtig gewöhnt, obwohl er ihn seit Jahren trug. Er war inzwischen ein sehr alter Mann.
    Obwohl er erst in den letzten Tagen angefangen hatte sich alt zu fühlen. Seit alles zurückzukehren begann.
    Es war schwer, den Finger darauf zu legen. Es war eigentlich nichts Besonderes geschehen.
    Dennoch war er davon überzeugt, daß er bald sterben würde.
    Er hatte früher nicht soviel an den Tod gedacht. Der Tod war Teil all dessen gewesen, was verdrängt werden mußte. Und das war ihm gelungen. Es war ihm besser gelungen als erwartet. Es war ihm gelungen, einen Strich unter die Vergangenheit zu ziehen und neu anzufangen. Als wäre das Leben ein leeres Blatt Papier, das darauf wartete, vollgeschrieben zu werden. Anscheinend war es jetzt voll, anscheinend hatte es deshalb angefangen, auf die Rückseite durchzulecken. Und auf der Rückseite war all das Alte, all das, was auszuradieren ihm während eines halben Jahrhunderts nicht gelungen war. Er schrieb nicht mehr – er las. Und das war sehr viel schlimmer.
    Es begann wie die Gegenwart von etwas, mehr nicht. Eine vage, diffuse Gegenwart von etwas, das sich plötzlich in seinem ruhigen, festgefügten Leben breit machte. Auf eine gewisse Art und Weise war er dankbar; nicht alle durften eine Weile mit dem Tod an ihrer Seite wandern, bevor es zu Ende ging, nicht alle bekamen die Möglichkeit, darüber nachzudenken, was das Leben ihnen geboten hatte. Anderseits wäre es besser, Knall auf Fall zu sterben, ohne Reue, ohne Nachdenken, ohne Gewissensqualen. Einfach mausetot auf der Straße umzufallen und wie eine zerschlagene Weinflasche weggefegt zu werden.
    The End, wie es einst am Schluß amerikanischer Filme zu lesen war. Damit man Bescheid wußte.
    Doch nein: aus irgendeiner unergründlichen Ursache war ihm diese Frist geschenkt worden. Er verstand nicht, warum.
    Oder eher: Je länger sie währte, desto besser verstand er.
    Es war ein Morgen wie jeder andere. Keine größeren Krämpfe, nur der bösartige Ischias im Bein und die schlechte Verdauung. Überhaupt keine äußeren Veränderungen.
    Bis auf diese plötzliche Gegenwart von etwas.
    Ja. Die stille

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