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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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geworden, vor allem im Zusammenhang mit den Kriegen in Jugoslawien. Die Menschen durften ganz einfach eine Weile bleiben, bis es für sie sicher war zurückzukehren, und wenn man zurückging, bekam man einen kleinen Unterstützungsbetrag mit auf den Weg als Dank dafür, daß man nicht zu der Belastung wurde, zu der man geworden wäre, wenn man geblieben wäre. Auf diese Weise verlieh man dem Phänomen eine Aura von Freiwilligkeit. Was eine reine Lüge war.
    Das Wesentliche des neuen Migrationsbegriffs war jedenfalls – wenn Sara die Sache richtig verstanden hatte –, daß Rückkehr ein ebenso wesentliches Phänomen wurde wie Integration. Daran konnte eine ganze Menge über die Werte der gegenwärtigen Gesellschaft abgelesen werden. Fand sie.
    Der alte Volvo war in Slagsta angekommen, das wie ein kleines künstliches Idyll vor schweren Namen wie Fittja, Alby, Norsborg und Hallunda an den Mälaren gepreßt dalag. Dort war auf jeden Fall das unglaublich häßliche Norrboda-Motel, ein langgestreckter viergeschossiger Bau in reinster Siebzigerjahrearchitektur. Die beiden Kriminalinspektorinnen standen eine Weile da und waren sprachlos. Beide verlangten gleichzeitig nach einem unmittelbaren Einblick in das Hirn des Architekten. Und wahrscheinlich war es genau das, was sie bekamen, als sie die gleichförmigen Flure mit der widerwärtig uringelben Auslegeware und der passenden vergilbten, für öffentliche Institutionen vorgesehenen Wand- und Deckenverkleidung betraten. Dies war also das Bild, das den neuen Schweden von ihrer eventuellen neuen Heimat vermittelt werden sollte.
    Wahrscheinlich war es ein wirksames Moment der Rückführungspolitik. Sie fanden das Büro des Vorstehers hinter der menschenleeren Rezeption; ein Motelzimmer wie alle anderen. Jörgen Nilsson kam ihnen mit nervöser Herzlichkeit entgegen. Sara meinte, den Typ sehr gut zu kennen. Achtundsechziger-Idealist, der die Gesellschaft von Grund auf verändern wollte, sich aber in einen gefängniswärterartigen Bürokraten verwandelt sah. Diese vollbartverdeckte Grimasse von Bitterkeit …
    Nein, das war ungerecht. Er hatte bestimmt sein Bestes getan.
    Sie setzten sich auf die ihnen angebotenen Stühle in dem total anonymen Büro.
    Nilsson setzte sich auf die Schreibtischkante und begann mit der Energie dessen, der sich rechtfertigt: »Vier Zimmer sind leer. In jedem wohnten zwei Frauen. Acht verschwundene Asylantinnen.«
    »Was heißt ›verschwundene‹?« fragte Sara Svenhagen unschuldig.
    »Daß sie sich heute morgen hätten melden sollen«, sagte Jörgen Nilsson und betrachtete sie verwundert, »es aber unterließen. Ich ging in ihre Zimmer – sie liegen nebeneinander – und stellte fest, daß sie fort waren.«
    Kerstin Holm fühlte sich bemüßigt zu erklären. »Wir sind von der Reichskriminalpolizei«, sagte sie. »Wir beschäftigen uns normalerweise nicht mit Flüchtlingsangelegenheiten.«
    »Reichskriminalpolizei?« stieß Jörgen Nilsson hervor und erbleichte merklich. »Es handelt sich doch nur um ein paar … Frauen, die untergetaucht sind. Das passiert doch jeden Tag irgendwo in Schweden.«
    »Aber hier ist es ein bißchen zu viel und ein bißchen zu oft passiert, nicht wahr?«
    »Ich bin von jedem Verdacht reingewaschen. Es waren verbitterte abgelehnte Flüchtlinge, die mich angezeigt haben. Vollkommen grundlos. Und das wissen Sie genau.«
    Sara Svenhagen wand sich ein bißchen und sagte dann:
    »Was wollten Sie eigentlich sagen statt ›Frauen‹?«
    Jörgen Nilsson starrte sie entgeistert an. »Was?« stieß er hervor. »Haben Sie nichts Besseres zu tun, verdammt?«
    »Sie wollten etwas anderes sagen als ›Frauen‹. Sie machten eine Pause, als würden Sie ein Wort verschlucken, das ein bißchen unbedacht gewesen wäre. Was war das für ein Wort?«
    Im Augenwinkel nahm sie einen anerkennenden Blick von Kerstin wahr. Das wärmte.
    »Ich begreife nicht, wovon Sie reden«, sagte Nilsson, erhob sich von der Schreibtischkante und begann, auf den wenigen Quadratmetern hin und her zu gehen. Es sah ein wenig unnatürlich aus.
    Kerstin Holm legte eine Prise nach. Dann zog sie einen Zettel aus der Tasche und faltete ihn mit maliziöser Langsamkeit auseinander. Schließlich las sie: »Im September vorigen Jahres sind Sie hier eingezogen. Im Oktober wurde hier eine russisch-litauische Zigarettenschmugglerbande ausgehoben. Im Dezember waren es illegale Coca-Cola-Transporte aus der Türkei. Im Februar wurden ein paar Gambier mit großen Mengen Heroin in

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