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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Gegenwart des Todes.
    Äußerlich lief das Leben weiter wie bisher, wie es eben aussah für einen einst so aktiven Mann von über achtzig Jahren. Also schleppend. Er traf die Kinder wie gewöhnlich, er kam zu ihren immer angenehmen Sonntagsessen, er feierte den Sabbat, Pessach, Sukkot, Chanukka und Yom Kippur wie gewöhnlich mit ihnen zusammen. Es war gerade die scheinbare Normalität, die es so schrecklich machte. Denn schrecklich war es doch? Es war doch schrecklich zu sterben. Doch richtig sicher war er nicht.
    Das bedrückendste war, daß es keine rationale Erklärung gab.
    Er hatte sein Leben dem Gehirn gewidmet, dem menschlichen Gehirn. Er hatte auf einem Feld geforscht, das praktisch nicht existiert hatte, bevor er damit anfing. Er war nach Schweden gekommen, hatte die Sprache gelernt und sich in die Gesellschaft hineingefunden, um dann sofort seine medizinische Forschung zu beginnen. Es hatte ihn erstaunt, wie absurd wenig wir über unser eigenes Gehirn wissen. Im großen und ganzen hatte er im Alleingang die Gehirnforschung in Schweden etabliert. Schon in den fünfziger Jahren war er, gerade erst vierzig, Professor am Karolinska Institutet geworden, und seitdem war sein Name Jahr für Jahr in den Diskussionen um den Nobelpreis gefallen. Doch er hatte ihn nie bekommen. Dagegen gewann er die sich immer stärker festigende Überzeugung, daß der Mensch durch und durch Materie ist. Die ›Seele‹ war ein altes Konstrukt, das eine Lücke im menschlichen Wissen überdeckt hatte, nämlich die Kenntnis des Gehirns. In dem Maße, in dem das Wissen über die Gehirnfunktionen zunahm, nahm das Bedürfnis nach der Seele ab, genau wie Götter und Mythen und Phantasmen stets weichen müssen, sobald die Wissenschaft an Boden gewinnt. Er hatte geheiratet, Kinder bekommen und alle Alltagswunder durchlebt, ohne von seinem Glauben an den Materialismus abzuweichen. Der Mensch wurde ausschließlich von Nervenimpulsen im Gehirn bestimmt. So war es.
    Und jetzt, im Alter von beinah neunzig Jahren, diese plötzliche Gegenwart von etwas, die nicht rational erklärt werden konnte, die keinen Platz unter den Nervenimpulsen des Gehirns zu haben schien.
    Oder fehlte es ihm vielleicht nur an Wissen über das, was mit ihm geschah?
    Er begann zu reisen; es wurde zu einem unwiderstehlichen Bedürfnis. Keine enormen Charterreisen über weite Ozeane, keine Zugreisen quer durch Rußland, keine Everest-Besteigungen. Es ging nur darum, unterwegs zu sein. In der Regel war es die U-Bahn, das kam ihm am logischsten vor. Zu reisen, ohne zu sehen, wohin man reist. Reine Bewegung. Das Reisen zu spüren, die Bewegung, ohne daß es einen eigentlich irgendwohin brachte. So sah das Bedürfnis aus.
    Also hatte er die letzten Tage damit verbracht, U-Bahn zu fahren. Er fuhr einfach, ohne Ziel, ohne Kontrolle. Irgendwie entsprach dies der Reise, die er in seinem Innern unternahm. Zu den verdrängten Buchstaben auf der Rückseite des Papiers. Des Papiers, das er umzudrehen versucht hatte, so daß es vollkommen leer zu schein schien.
    Und Sachen kamen ihm entgegen. Sie stürzten aus den U-Bahnschächten, sie wälzten sich von den Bahnsteigen auf ihn zu, sie stürzten von den Rolltreppen über ihn herab. Szenen nur, kurze Sequenzen, und er hatte keine Chance, Ordnung hineinzubringen. Es war sehr eigenartig. Er war dazu verdammt zu wandern, verdammt dazu, in Bewegung zu bleiben, als würde er im selben Moment, in dem er innehielte, sterben. Wie ein Hai.
    Oder wie Ahasver, der wandernde Jude, verurteilt zu ewigem Leben und ewigem Leiden.
    Und es gab vieles, was noch zu verstehen war, soviel verstand er.
    Er saß in der U-Bahn. Er hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Es spielte keine Rolle. Das Licht floß vorüber, dann und wann ein Bahnhof, manchmal sporadisch Lampen im Tunnel. Und Arme lagen über ihm, Beine lagen über ihm, dünne, dünne Beine, dünne, dünne Arme, und er sah ein nach unten hängendes Gesicht, und er sah einen dünnen Draht, der in die Schläfe eingeführt wurde, und er sah, wie sich das nach unten hängende Gesicht vor Schmerzen verzerrte. Und er schrieb in ein Buch. Er las den Text, den er selbst ins Buch schrieb, und das Buch sprach von Schmerzen, von Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen.
    Und er betrachtete seinen Arm, wo die Nummer eintätowiert war, und die Ziffern zogen durch ihn hindurch, weg von ihm.
    Er fuhr weiter, weiter durch das Innere der Stadt, und der Tod saß an seiner Seite, und der Tod wollte etwas, aber er verstand nicht,

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