Tiefer Schmerz
ihrem Zimmer angetroffen. Und im März gab es Anklagen wegen Prostitution. Ich nehme an, Sie haben das Wort ›Huren‹ verschluckt?«
Jörgen Nilsson ging weiter in dem kleinen Zimmer auf und ab. Trotz seines exaltierten Zustands schien er ganz darauf konzentriert zu sein, Vorteile und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Dann kam er zu einem Entschluß, hielt inne und kehrte an die Schreibtischkante zurück. »Ja«, sagte er und fixierte Kerstin Holm. »Sie müssen verstehen, wie schwierig es ist, das zu entscheiden. Die Asylsuchenden sitzen monatelang eingesperrt, oft jahrelang. Natürlich müssen sie in dieser Zeit ein Sexualleben haben können. Es ist von Anfang an ein Pulverfaß, und irgendwie ihr Sexualleben einzuschränken hieße, das Streichholz an die Lunte zu legen. Aber manchmal ufert die Anzahl der Partner ein bißchen aus. Um es mal so zu sagen. Sie anzuzeigen würde bedeuten, sie auf der Stelle auszuweisen. Ich versuche tolerant zu sein. Und ja: Ich habe dann und wann ein bißchen viel weggeguckt. Das war meine Form von zivilem Ungehorsam. Ich will verdammt noch mal kein KZ-Wächter sein.«
»Und auf Sie haben wir es auch gar nicht abgesehen«, sagte Kerstin Holm und fühlte eine plötzliche Sympathie für den frustrierten Mann. »Wir befürchten, daß den Frauen etwas zugestoßen ist. Warum sollten sie untertauchen, wenn sie hier – mit Ihrem Segen – ihr Gewerbe relativ ungestört betreiben konnten? Es sind ja kostenlose Räume.«
»Aber es ist denkbar, daß sie in irgendeiner Form doch Miete bezahlen«, sagte Sara Svenhagen und sah Kerstin Holm an, die eine kleine Mißfallensmiene machte. Obwohl deutlich war, daß ihr Mißfallen dem Gedanken galt, nicht der Frage.
Jörgen Nilssons Ausbruch ging ein kurzes Flackern seines Blicks voraus. Dann kam es: »Sitze ich hier auf der Anklagebank? Sagen Sie mir ganz einfach, was Sie hier wollen. Wollen Sie mir allen Ernstes sexuelle Ausbeutung von Asylsuchenden vorwerfen? Nur heraus mit der Sprache! Glauben Sie, ich hätte acht Frauen ermordet und zerstückelt und aufgegessen, oder was glauben Sie?«
Sara spürte, daß sie vielleicht – doch nur vielleicht – einen Schritt zu weit gegangen war. Sie hatte aus eigenem Antrieb und ohne sich vorzusehen die Rolle des ›bad cop‹ angenommen. Irgendwie ganz von selbst.
»Wir sind, wie gesagt, nicht Ihretwegen hier«, sagte sie verbindlich. »Aber es ist wichtig, daß Sie nicht schludern, wenn Sie nachdenken. Denn jetzt sollen Sie nachdenken. Ist in den letzten Tagen überhaupt etwas Ungewöhnliches vorgekommen? Was ist gestern abend passiert, heute nacht, heute früh? Welche Nachbarn können etwas gesehen haben? Wer weiß von dem Bordellbetrieb? Welche Kunden kennen Sie? Gibt es einen Zuhälter?«
Kerstin wartete, bis Sara fertig war. Dann stand sie auf, schob Jörgen Nilsson Block und Kugelschreiber hin und sagte: »Die Zimmerschlüssel, bitte. Wir sehen uns die Zimmer an, während Sie die Antworten auf die Fragen meiner Kollegin zusammenstellen. Und uns jede mögliche Information über die vermißten Frauen geben.«
Die Schlüssel wurden ihr in die Hand gelegt, und als sie das Büro des Vorstehers verließen, konnten sie deutlich hören, wie der Kugelschreiber übers Papier scharrte, hektisch, wie bei einem Menschen, dem das Messer an der Kehle sitzt.
Die beiden Polizeibeamtinnen wanderten mit unbewegten Gesichtern den Korridor entlang – bis sie um die Ecke bogen und zur Treppe gelangten. Da fingen sie an zu kichern wie die Schulmädchen. Es ging vorüber.
Als sie die Treppe hinaufstiegen, sagte Kerstin Holm barsch: »Es ist wichtig, daß Sie nicht schludern, wenn Sie nachdenken.«
»Es kam mir einfach so in den Sinn«, sagte Sara ein wenig selbstzufrieden und strich mit der Hand durch ihr blondes Stoppelhaar. »Was für einen Grund sollte er haben, zu verschweigen, daß in der Flüchtlingsunterkunft Prostitution betrieben wird?«
»Gerade als ich angefangen hatte, ihn zu mögen. Ich habe ihm das wirklich abgenommen mit dem zivilen Ungehorsam. Ich alte Tante, bin naiver als du. Ein schrecklicher Gedanke.«
»Sag so etwas nicht. Die ganze Scheiße, die ich gesehen habe, als ich mit den Pädophilen gearbeitet habe … Kein Grund, darauf neidisch zu sein. Und eine alte Tante bist du nicht.«
»Doch«, sagte Kerstin mit Grabesstimme.
Sie kamen zu den Zimmern, vier Zimmer nebeneinander in einem anscheinend endlosen Korridor im zweiten Obergeschoß. Zimmer 224, 225, 226 und 227. Nach einigem Hin und
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