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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Zeit verschwunden war, würde er, so souverän er als Detektiv auch sein mochte, nie ergründen können. Diese Lücken in der Zeit gehörten zu den großen Rätseln des Lebens.
    Wagen wurde geparkt. Kriminalkommissar schritt durch Polizeipräsidium. Kriminalkommissar erreichte Zimmer. Tasche wurde an Schreibtisch gestellt. Armbanduhr konsultiert. Toilette besucht. Windel gewechselt. Staubkorn aus linkem Auge entfernt. Korridor betreten. Tür geöffnet. Kampfleitzentrale leer. Stopp.
    Die Welt nahm zwischendurch Telegrammstil an, wenn alles Routine wurde. Aber hier war stopp. Stopp. Wo befand sich sein Team? Warum war der triste Sitzungsraum, der – nicht ganz ohne Ironie – unter dem Namen »Kampfleitzentrale« fungierte, völlig leer?
    Kriminalkommissar Jan-Olov Hultin befragte erneut seine Armbanduhr. Es war drei Minuten nach halb neun. Um halb neun sollte die morgendliche Lagebesprechung anfangen. Selbst wenn die A-Gruppe kein Paradebeispiel für Pünktlichkeit war, sollte doch irgendeiner zur Stelle sein.
    Resoluten Schritts begab sich Hultin an sein Katheder, wo er wie ein Oberstufenlehrer, der sich weigert, in Pension zu gehen, zu thronen pflegte. Er griff zum Telefon und wählte die Zeitansage. Mit ihrer menschlichen, allzu menschlichen Stimme sagte sie: »Acht Uhr, sechzehn Minuten und zehn Sekunden. Piep.«
    Allerdings sagte sie vermutlich nicht ›piep‹.
    Jetzt begann Jan-Olov Hultin über schwarze Löcher im Raum-Zeit-Kontinuum, gravitationelie Zeitdilatation und vergleichbare Phänomene nachzugrübeln. Hatte er sich, während seines Bads in der trüben Pfütze der gemischten Gefühle, in einer anderen, parallelen Zeit bewegt? Vierzig Jahre lang war seine Armbanduhr der Schweizer Qualitätsmarke Patek Philippe nie mehr als ein paar Sekunden vor- oder nachgegangen. Plötzlich ging sie eine Viertelstunde vor. Und dies genau in der Zeit, die verschwunden zu sein schien. Ihn fröstelte, und er ließ seinen Gedanken freien Lauf. Es ist bekannt, daß die Zeit innerhalb eines Gravitationsfelds langsamer geht als außerhalb. Je schwächer die Gravitation, desto schneller die Zeit. Eine Uhr auf dem Mount Everest geht schneller als eine Uhr im Marianengraben. Und was bei sehr hohen Geschwindigkeiten mit der Zeit geschieht, hat schon Einstein in der Relativitätstheorie gezeigt – und ganz so schnell hatte sich die Autoschlange wohl kaum durch Stockholm bewegt. Aber wenn es nun umgekehrt wäre. Wenn nun die Schlange so naturwidrig langsam war, daß sie für einen Augenblick die Schwerkraft aufhob und die Zeit dazu brachte, schneller zu gehen. Wenn es nun Gott war, der gesagt hatte: ›So, meine Kinder, jetzt reicht es mit euren Dummheiten. Ihr setzt euch allein in eure Autos, die Kohlendioxyd ausspucken, das die Welt verpestet. Außerdem bewegt ihr euch kaum noch vom Fleck. Ich muß euch ein Zeichen geben, auf daß ihr aufhört, euch wie die Idioten aufzuführen und zumindest Fahrtgemeinschaften bildet. Mindestens drei in jedem Wagen, und ihr dürft die Bus- und Taxispur benutzen.‹ So sprach der Mächtige zu dem nicht ganz so Mächtigen, der jetzt aufblickte und sechs mehr oder weniger aufmerksame Augenpaare auf sich gerichtet sah. Er schaute auf die Uhr. Sie zeigte drei Minuten nach halb neun. Und der Sekundenzeiger bewegte sich genau wie sonst.
    Einen Moment lang zweifelte Jan-Olov Hultin. Er sah ein, daß er an einem Scheideweg stand. Es war eine Parallele zur Inkontinenz. Er hätte darin versinken können. Er hätte sein Leben der Suche nach Erklärungen dafür widmen können, daß ausgerechnet er von diesem boshaften, höhnischen, ununterbrochen peinlichen Zustand betroffen war. Doch er hatte eingesehen, daß er niemals eine Erklärung finden würde. Er hatte eingesehen, daß er in einen endlosen Abwärtssog von trostlosen Grübeleien geraten würde, der aller Wahrscheinlichkeit nach in einer Sucht oder mit Selbstmord enden würde. Er hatte das unergründliche Spiel des Schicksals akzeptiert, sich die Windel eingelegt und sein Leben weitergeführt.
    Und jetzt? Hatte er ein echtes mystisches Erlebnis gehabt? Eine moderne Variante von Meister Eckhart oder Franz von Assisi? Oder war es einfach nur seine Armbanduhr, die angefangen hatte zu spinnen?
    Was war mit der Zeit geschehen?
    Er faßte einen Beschluß. Er würde die Uhr zur Reparatur geben. Und wenn es noch einmal passierte, würde er sich einer Computertomographie unterziehen und nachsehen lassen, ob ein Schlaganfall sich anbahnte.
    Denn Gottes Stimme

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