Tiefer Schmerz
obgleich es gegen alle Regeln und Vorschriften verstieß.
Es geschah oft – viel zu oft –, daß Hultin sich wieder in jenem Hotelzimmer in Skövde befand. Natürlich konnte man es einen Traum nennen. Vermutlich war es ein Traum. Aber es kam ihm nicht so vor. Er war wirklich da. Es war sehr seltsam. Der gesamte Ablauf des Geschehens, bis ins letzte Detail, wiederholte sich, und am sonderbarsten war, daß er die ganze Zeit genau wußte, was geschehen würde. Dennoch konnte er nichts daran ändern. Er war gezwungen, Nacht auf Nacht – im vollen Bewußtsein dessen, was geschehen würde – den ganzen Verlauf durchzugehen. Paul Hjelm erschoß einen Schurken und wurde in den Arm geschossen, Kerstin Holm wurde am Kopf getroffen. Und Jan-Olov Hultin tötete einen Menschen und drückte einem anderen die Pistole in den Mund.
Es war nicht so einfach, einen Menschen zu töten.
Die Ereignisse in Skövde standen im Zusammenhang mit einer seltsamen, komplizierten und aufsehenerregenden Verbrechensserie im vergangenen Sommer. Die Medien hatten die früheren Fälle der A-Gruppe stets leicht zusammenfassen können, ›die Machtmorde‹, ›der Kentuckymörder‹, doch der dritte Fall war schwieriger, und zum Glück hatte die Presse nicht alle Wendungen, die der Fall genommen hatte, aufgeschnappt. Es kam zu einem Flickenteppich von eigentümlichen Bezeichnungen – ›die Kumla-Explosion‹, ›die Sickla-Schlacht‹, ›die Schießerei von Skövde‹, ›der Hornstull-Coup‹ –, und nicht einmal der wachste Leser vermochte die einzelnen Vorfälle zu einem Ganzen zusammenzufügen.
Denn ein Ganzes gab es. Und es war nicht schön.
Es war für alle ziemlich mühevoll gewesen, wieder in Gang zu kommen. Hultin selbst war als Operativer Chef der A-Gruppe zurückgekehrt aus seiner unfreiwilligen Pensionierung. Letztere würde er Waldemar Mörner, dem formalen Chef der Gruppe, nie verzeihen.
Es kam vor, daß die Staus schon anfingen, wenn er in Norrviken auf die E4 einbog. Das waren ärgerliche Vormittage. An diesem frühen Maimorgen dauerte es zum Glück bis Ulriksdal, bevor die Staufalle zuschnappte. Es regnete in Strömen, und er saß in einem absolut stillstehenden Stau und war sauer.
Nicht zuletzt deshalb, weil er sich in die Hose machte.
Das tat er anderseits ständig. Zu diesem Zweck trug er spezialgefertigte Windeln. Er litt an chronischer Inkontinenz, und was blieb ihm übrig, als in den sauren Apfel zu beißen. Aufgeben und sich krankheitsbedingt pensionieren lassen oder sich den Deubel darum scheren. Es ignorieren. Er wählte letzteres.
Doch je mehr er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm der Zusammenhang zwischen der Krankheit und diesen aufflammenden Zornesausbrüchen, die bis vor einem Jahr lediglich zu einigen bei Kopfstößen aufgeplatzten Augenbrauen geführt hatten, danach jedoch eskaliert waren und ihren Höhepunkt in Skövde erreicht hatten. Während des letzten Jahres allerdings war es ihm gelungen, sich – mit Ausnahme des Harkenmördervorfalls – an sein Prinzip ›leben und leben lassen‹ zu halten. Selbst beim Unkraut im Garten, das gedieh wie nie zuvor.
Der letzte Fall hätte sehr wohl zur Folge haben können, daß mehrere seiner Mitarbeiter abgesprungen wären; es war ein unerhört aufreibender Fall gewesen. Doch glücklicherweise waren alle noch da, und alle lebendig.
Ihm kam der Gedanke, daß er sie immer mehr als seine Kinder ansah. Er wußte, daß das ein Fehler war. Ausgerechnet er, der mehr als irgend jemand sonst in der Lage war, Arbeit und Privatleben zu trennen, fand, daß er auf seine alten Tage sentimental geworden war. Sie hatten so vieles gemeinsam erlebt und waren wie keine andere Gruppe, mit der er zuvor gearbeitet hatte, zusammengeschweißt worden.
Wenn der Teufel in die Jahre kommt, wird er religiös.
In einem kurzen Augenblick rückhaltloser Aufrichtigkeit stellte er fest, daß Paul Hjelm und Kerstin Holm, Jorge Chavez und Arto Söderstedt, Viggo Norlander und Gunnar Nyberg und selbst die neu dazugekommene Sara Svenhagen, des brüsken Brynolfs holde Tochter, ihm näherstanden als seine eigenen Söhne, die beide Junggesellen und großartige Geschäftsleute waren und höchstens Weihnachten zu Besuch kamen, aber dann nur ständig auf die Uhr schauten und die ganze Zeit mit ihren Handys telefonierten.
Jan-Olov Hultin versank in einer trüben Pfütze von gemischten Gefühlen. Jetzt reichte es aber mit der Gefühlsduselei. Und da war er schon beim Polizeipräsidium. Wohin die
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