Tiefer Schmerz
Finger zu lockern. Es saß fest wie in einer Schraubzwinge. Schließlich bekam er es los. Er winkte Norlander und Andersson zu sich. Sie steckten die Köpfe zusammen wie eine Handballmannschaft vor dem Spiel.
Dann drückte Nyberg auf den grünen Knopf. Keiner sagte etwas.
Aus dem Handy kam ein unbegreiflicher Redeschwall. Eine Frauenstimme in einer fremden Sprache. Dann war es eine Weile still, dann kam etwas, was anscheinend ein Fluch war, und es war still.
Die drei Polizisten wechselten verwunderte Blicke. Schließlich faßte Nyberg sich und sagte: »Versucht, euch das zu merken. Wir schreiben es auf, jeder für sich.«
»Und warum?« fragte Andersson verwirrt.
»Weil es eine Mitteilung an den Mörder war«, sagte Nyberg gelassen.
9
Es schienen hauptsächlich willkürliche Ansammlungen von Buchstaben zu sein. Wild zusammengewürfelte Buchstaben. Und besonders ähnlich waren sie nicht. ›Epivu‹, dachte Kriminalkommissar Jan-Olov Hultin. War das auch eine willkürliche Ansammlung von Buchstaben?
Er saß in seinem ziemlich kargen Büro, während vor dem Fenster der Regen niederging. In dem wenig inspirierenden, rasch blinkenden Licht einer Leuchtstoffröhre, die im Begriff stand, den Geist aufzugeben, betrachtete er drei Zettel. Es war halb acht, es war Freitagabend, und allem Anschein nach war er allein auf den Fluren der A-Gruppe in dem Teil des Polizeipräsidiums in der Polhemsgata, in dem die Reichskriminalpolizei untergebracht war.
Es war anscheinend eine slawische Sprache. Trotz der Ungleichheiten und trotz der eigenartigen Schreibweisen fand Hultin, daß es russisch klang. Das hatten Nyberg und Norlander auch gemeint. Was für slawische Sprachen gab es außer Russisch? Tschechisch, Bulgarisch, Serbokroatisch? War Serbokroatisch noch immer eine Sprache? Oder gab es jetzt Serbisch einerseits und Kroatisch anderseits? Er war nicht sicher.
Ein Sprachexperte mußte hinzugezogen werden. Der war nicht zu beneiden.
Erstaunlich geistesgegenwärtig von Gunnar Nyberg übrigens. Aber er war schließlich als Polizist von Klarheit zu Klarheit gegangen, seit Hultin vor Gott weiß wie vielen Jahren die A-Gruppe zusammengestellt hatte, um den Fall mit den Machtmorden zu lösen. Von einem schwerfälligen Grizzlybären auf Menschenjagd in der Unterwelt zu einem modernen, klar denkenden, abgeschlankten Internetbullen.
Hultin griff zu einem neuen Papier. Protokoll des Verhörs mit Adib Tamir. Er las diagonal. Gutaussehende Frau, allein, mittelgroß, langes schwarzes Haar, rote Lederjacke, enge schwarze Hosen, schwarze Joggingschuhe. Eine Gang ›Kleinfuzzis‹ war dabei. Unbekannte Möchtegerns. Sie waren abgehauen. Zuerst trat sie einen messerbewaffneten Hamid nieder. Tritt ins Gesicht. Dann beförderte sie einen ebenso messerbewaffneten Adib mit dem Kopf voraus an eine Bank. Er war weggetreten. Als er zu sich kam, war alles voller Menschen, die schrien. Er sah Hamids Beine und Gedärme ein paar Meter entfernt auf dem Bahnsteig liegen und fiel gleich wieder in Ohnmacht. Als er wieder aufwachte, war der Bahnsteig leer, bis auf ein paar Bullen. Das war alles. Er hatte keine Ahnung, wer die kleinen Fuzzis waren. Solche, die sich anhängten. Die gab es immer. Die Profis waren Hamid und er. Klar könnte er versuchen, bei einer Zeichnung zu helfen, aber er hatte sie kaum gesehen. Sie hatte ihnen den Rücken zugewandt, bis sie sich umdrehte und die Unbezwingbaren in ein paar erbärmlichen Sekunden bezwang.
Schlußwort: »Sie muß Geheimagentin gewesen sein, oder so.«
Ja du, Adib, dachte Hultin. Wer weiß? Sie nahm jedenfalls einen messerbewaffneten Hamid an den Beinen, schob ihn wie eine Schubkarre vor sich her über den Bahnsteig, ließ den halben Körper über die Bahnsteigkante hinausragen, gerade als die U-Bahn einfuhr. Dann verschwand sie spurlos. Mit roter Lederjacke und allem.
Aber das Handy blieb in Hamids Hand zurück. So etwas würde einem geschulten KGB-Agenten wohl nicht passieren.
Näherten sich die Ereignisse der letzten Tage einander an? Begann eine Art Zusammenhang hervorzutreten?
Adib Tamir hatte auf jeden Fall Fotos der acht Frauen ansehen müssen, die aus der Flüchtlingsunterkunft verschwunden waren: Galina Stenina, Valentina Dontsjenko, Lina Kostenko, Stefka Dafovska, Mariya Bagrjana, Natalja Vaganova, Tatjana Skoblikova und Svetlana Petruseva.
Adib hatte den Kopf geschüttelt. »Nein«, hatte er gesagt.
»Nein, überhaupt nicht.«
›Überhaupt nicht‹? Was bedeutete das? Hultin breitete die
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