Tiefer Schmerz
Paßfotos von acht Frauengesichtern vor sich auf dem Schreibtisch aus und betrachtete sie eingehend. Doch, räumte er ein. Er verstand, was Adibs ›überhaupt nicht‹ bedeutete. Diese Frauen sahen fertig aus. Ihr Blick war erloschen. Es war kein Leben in ihnen. Keine von ihnen war über fünfundzwanzig Jahre alt, aber alle sahen bedeutend älter aus. Das Leben war hart mit ihnen umgesprungen, das konnte man sehen. Wahrscheinlich waren sie seit ihren Teenagerjahren Prostituierte, wie die übrigen osteuropäischen Prostituierten, die Schweden und Westeuropa überschwemmten. Eine fürchterliche Flutwelle von Frauenerniedrigung schwappte über Europa, und der Westen war aktiv daran beteiligt.
Für einen kurzen Moment empfand Jan-Olov Hultin Übelkeit. Über sein Geschlecht. Über seine Herkunft. Über sein so wohlbehütetes Leben.
Er wandte sich wieder seiner Arbeit zu. Den Technikern zufolge sollte es nicht unmöglich sein, das Abo des Mobiltelefons ausfindig zu machen. Die SIM-Karte lag vor. Das Abo war zwar nicht schwedisch, doch das sollte kein Hindernis sein. Und danach sollte man eine vollständige Liste der eingegangenen wie abgegangenen Gespräche bekommen können.
Darauf war er gespannt.
Bis dahin konnte er Puzzle legen. Die Stücke hatte er vor sich. Die Frage war nur, ob sie zusammengehörten.
In gut vierundzwanzig Stunden war viel geschehen. Anderseits wurden während eines Tages im Königreich Schweden eine ganze Menge Verbrechen begangen. Es war also keineswegs sicher, daß die drei Ereignisse irgendwie zueinander in Beziehung standen.
Genaugenommen war vielleicht überhaupt kein Verbrechen begangen worden. Die Frauen waren vielleicht ganz einfach aus dem Norrboda-Motel abgehauen; das hätte er selbst wahrscheinlich auch getan, wenn er dort in Verwahrung gesessen hätte. Der Skansenmann war vielleicht nur vor den Dämonen seines Drogenrauschs geflohen; nicht einmal das neu entdeckte Loch im Zaun mußte mit der Sache zu tun haben. Und sogar bei dem U-Bahn-Vorfall konnte es sich um reine Selbstverteidigung handeln.
Keines der Ereignisse mußte das geringste mit den anderen zu tun haben.
Doch bekanntlich kann der Wille Berge versetzen.
Also legte Jan-Olov Hultin ein Puzzle.
Zuallererst: Warum hing es zusammen? Die geballte Routine und Scharfsicht der A-Gruppe sagte – so gut wie einhellig –, daß es so war. Kerstin legte sich zwar via Jorge ein bißchen mit Paul an, doch dabei drehte es sich um irgendein privates Spiel, von dem Hultin nichts wissen wollte. Ihm fehlte nämlich Neugier. Verwunderung konnte er empfinden, Wißbegier, Erfahrungsdrang – doch nicht Neugier. Solange das Private sich nicht auf die Arbeit auswirkte, hielt er sich heraus. Er hatte ja inzwischen sogar ein verheiratetes Paar im Team, und es funktionierte besser, als man gemeinhin annahm. Hultin hatte nicht viel übrig für das Aufstellen strikter Regeln und Direktiven. Sollte Mörner sich mit so etwas abgeben. Es nahm ja doch niemand Notiz davon.
Er begann noch einmal von vorn: Warum hing es zusammen? Weil von dem Ganzen der Geruch internationalen Verbrechens ausging – am schwedischsten waren noch Hamid und Adib. Weil es in so schneller Folge geschehen war – eineinhalb Tage. Weil nichts richtig normal war – Vielfraßmord, Dirnenflucht, gewalttätige Frau.
Am Mittwoch, dem dritten Mai, um Viertel nach zehn am Abend, wird ein Mann, wahrscheinlich eine relativ große Nummer im internationalen Verbrechen, zu den Wölfen nach Skansen hineingejagt; der Wert seiner Goldkette wird auf beinah dreihunderttausend Kronen geschätzt. Die Tatsache, daß sich seine Verfolger einen bedeutend kürzeren Weg durch den Zaun zum Wolfsgehege schneiden, läßt auf sorgfältige Planung schließen. Man treibt ihn zu den Wölfen. Man rechnet damit, daß er über den Zaun klettert und auf der anderen Seite der Wolfsgrube wieder herauskommt. Man hat sich etwas ausgedacht, was dort auf ihn wartet. Also hat man es wahrscheinlich auf die Vielfraße abgesehen. Allem Anschein nach ist die Tat bis ins Detail geplant – und das Opfer reagiert genau wie vorhergesehen. Es fragt sich, ob man sogar darauf spekuliert hat, daß die Vielfraße durch das Kokain im Blut einen Kick bekommen. Falls das zutrifft, wäre es richtig raffiniert ausgedacht.
Anscheinend kennt man seinen Ellroy.
Am Donnerstag, dem vierten Mai, irgendwann nach halb drei am Morgen, verschwinden acht Prostituierte aus Osteuropa aus dem Nebengebäude einer Flüchtlingsunterkunft. Dies
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