Tiefer Schmerz
Information.
»Ich dachte mir schon, daß du noch da bist«, grunzte eine barsche Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Du ja offenbar auch, Brunte«, sagte Hultin, während sein Herz sich wieder beruhigte.
»Ich heiße nicht Brunte«, sagte Chefkriminaltechniker Brynolf Svenhagen mit Nachdruck. »Ist es mein ungehobelter Schwiegersohn, der solchen Mist verbreitet?«
»Normalerweise sind es Pferde, die Mist verbreiten«, entfuhr es Hultin.
Eine Weile war es still im Hörer. Svenhagen suchte anscheinend nach einem schlagfertigen Kommentar. Da schlagfertige Kommentare aber nicht die starke Seite des strikten Technokraten waren, herrschte vorübergehend Schweigen.
Ein vielsagendes Schweigen, dachte Hultin.
Schließlich sagte der Chefkriminaltechniker, wenig schlagfertig: »Also willst du nun diese Information haben oder nicht? Ich habe wie ein Büffel geackert, um sie noch fertig zu kriegen. Es ist immerhin Freitag abend.«
»Ich will sie gern haben«, sagte Hultin und goß damit Öl auf die Wogen. »Danke«, fügte er sogar noch hinzu.
Das reichte, um Svenhagen zu besänftigen. Er schoß aus der Hüfte:
»Ich habe eine vollständige Liste aller aus- und eingehenden Telefongespräche, die von den Zimmern 224, 225, 226 und 227 im Norrboda-Motel in Slagsta geführt worden sind. Könnte das von Interesse sein?«
Obwohl es von allerhöchstem Interesse war, wurde Hultin eher wütend als überglücklich. Er hatte die Telefone in den vier Motelzimmern ganz einfach vergessen. Hatte er die Dinge nicht mehr im Griff? Waren diese Zeitlöcher doch alarmierender, als er für sich beschlossen hatte? War es ein Gerinnsel, das sich unaufhaltsam einem viel zu engen Blutgefäß im Gehirn näherte?
»Bist du noch dran, Jan-Olov?« fragte Brynolf Svenhagen besorgt.
»Ja«, sagte Hultin und riß sich zusammen: »Ausgezeichnet, Brynolf. Kannst du sie rüberfaxen?«
»Sie sitzen schon im Fax«, gab Svenhagen selbstzufrieden zurück.
Während er darauf wartete, daß sich das Faxgerät in Gang setzte, betrachtete Hultin seine Armbanduhr. Es war dreizehn nach acht. Bald waren exakt zwölf Stunden vergangen, seit das Zeitloch das Raum-Zeit-Kontinuum gelockert hatte. »Acht Uhr, sechzehn Minuten und zehn Sekunden. Piep.«
Vielleicht befand er sich bereits mitten in der Zeitlücke.
Das Faxgerät ratterte los und rief den guten Kommissar in die Wirklichkeit zurück. Obwohl er mit dem Begriff nicht richtig zufrieden war.
Die Wirklichkeit …
Hultin sah auf das hervorquellende Fax und fragte sich, ob es wirklich die Wirklichkeit war, in der er sich befand. Eine gute Weile starrte er auf das sich in Wellen ablagernde Papier. Krrr-krrr-krrr-prritt. Der Haufen wuchs. Die Zeit verschwand in hypnotischer Monotonie. Krrr-krrr-krrrprritt. Krrr-krrr-krrr-prritt. Krrr-krrr-krrr-prritt. Ein Augenpaar starrte ihn aus der Dunkelheit an. Er zuckte ungewöhnlich heftig zusammen und warf einen Blick aufs Handgelenk. Die Uhr zeigte drei nach halb neun – die gleiche Zeit wie heute morgen, als es eigentlich sechzehn Minuten nach acht war. ›Herr Gott‹, dachte er. ›Es geschieht wirklich.‹
Paul Hjelm stand in seinem viel zu dünnen Leinenjackett da, hielt einen Schirm mit Polizeilogo in der Hand und hatte Hörstöpsel in den Ohren. Seine zum Abschiedsgruß erhobene Hand sank unsicher durch die Raumzeit.
»Aber was ist denn?« brüllte er.
»Schrei nicht so«, sagte Jan-Olov Hultin und starrte auf seine Armbanduhr. Der Sekundenzeiger tickte, aber war er nicht ungewöhnlich schnell? Was tat Paul hier? War es plötzlich Morgen geworden? War es schon Zeit für die Vormittagsbesprechung in der Kampfleitzentrale? War er zwölf Stunden lang in einem schwarzen Loch in der Zeit unterwegs gewesen?
»Entschuldigung«, sagte Hjelm und zog die Hörstöpsel aus den Ohren. » Kind of Blue. Miles Davis.«
»Um Musik zu hören, ist die Freizeit da«, sagte Jan-Olov Hultin verwirrt.
Paul Hjelm musterte ihn ziemlich eindringlich. »Mit dir stimmt was nicht, Jan-Olov«, sagte er schließlich.
»Was tust du hier um diese … Tageszeit?«
»Ich wollte gerade nach Hause gehen. Ich habe mir das ganze Material noch einmal angesehen, und ich fresse einen Besen, wenn es nicht zusammenhängt. Aber was machst du hier?«
Hultin saß ganz still. Er strich mit der Hand über die Schreibtischkante. Doch, dachte er, dies ist die Wirklichkeit. Dies ist Materie, die ich fühlen kann. Raum ist nicht Zeit. Ich befinde mich in der Zeit auf eine andere Weise, als ich mich
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