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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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das Blickfeld ersetzte, erkannte er einen Menschen. Und als das Feuermeer verblaßte, sah er – immer noch hinter den Lidern –, daß der Mensch mit dem Kopf nach unten hing. Dann vermochte er endlich die Augen zu öffnen.
    Da wurde es deutlicher.
    An einer Eiche hing ein sehr alter Mann. Von den zusammengebundenen Füßen lief ein Seil in den Baum hinauf. Die Hände des Mannes schleiften auf der Erde. Die grauen Haarsträhnen reichten fast bis zum Boden, unmittelbar neben einem Spazierstock und einem zerstörten Grabstein. Und in seinem Kopf stak in Höhe der Schläfe ein dünner, aber fester Metalldraht. Auf dem Gesicht des Mannes lag ein eigentümliches Lächeln. Es war ein grausiger Anblick in dem scharfen Scheinwerferlicht. Wie die Schlußszene eines Schauspiels. Einer antiken Tragödie.
    »Jesses«, sagte Paul Hjelm.
    Hultin zupfte ein paarmal an dem Seil, wie an einer Contrabaßsaite. Ein gebrochener Ton drang in die Nacht.
    »Um die Füße ein acht Millimeter dickes rot-lila-gestreiftes Polypropenseil mit einem Kreuzknoten.«
    »Rassisten?« fragte Hjelm und zeigte auf den zerstörten Grabstein.
    »Sieht so aus«, sagte Hultin. »Etwas weiter fort sind mehrere Grabsteine umgestürzt und beschädigt. Und zerschlagene Schnapsflaschen.«
    »Keine Fußspuren«, nickte Hjelm.
    »Nein. Nicht direkt.«
    »Keine Fußspuren im Vielfraßgehege, meinte ich. So hat er gehangen. Und mit blutenden Fingern das Wort in die Erde geschrieben.«
    »Allem Anschein nach. Weißt du, wer dieser Mann ist?«
    »Nein. Jude?«
    Hultin zog den Jackenärmel des alten Manns hoch. Das manschettenbesetzte weiße Hemd rutschte mit.
    In Höhe des Handgelenks verlief eine Reihe tätowierter Ziffern.
    Hjelm schnitt eine Grimasse und zuckte zurück.
    »O pfui Teufel«, stieß er hervor.
    »Professor emeritus Leonard Sheinkman«, sagte Hultin leise. »Weltberühmter Medizinforscher. 1912 in Berlin geboren, also achtundachtzig Jahre alt.«
    »Und so hier aufgehängt. Pfui Teufel.«
    »Gelinde gesagt.«
    Hjelm beugte sich nieder und betrachtete das alte, zerfurchte Gesicht. Er betastete vorsichtig den steifen Metalldraht, der in der Schläfe steckte. Er schauerte zusammen und mußte an einen früheren Fall denken, bei dem widerwärtige Metallinstrumente in den Kopf eingeführt worden waren. Es war kein Fall, an den er sich besonders gern erinnerte.
    ›Böses Blut kehrt wieder.‹
    Doch das wollten sie nie wieder sagen.
    »Ich weiß nicht, was es ist«, sagte Hultin und ging neben ihm in die Hocke. »Aber es erinnert mich an etwas.«
    »Folter?« sagte Hjelm.
    »Vielleicht.«
    Sie richteten sich wieder auf.
    »Wir müssen Brunte wohl zu den Vielfraßen zurückschicken«, sagte Hjelm.
    »Darum kommen wir kaum herum …«
    Hultin gab dem Polizeiassistenten am Scheinwerfer ein Zeichen, und das Licht erlosch. Es wurde stockfinster. Die Augen konnten jetzt im Dunkeln gar nichts mehr sehen, und der Mond war wieder hinter die unsichtbaren Wolken zurückgetreten.
    »Zeugen?« fragte Hjelm.
    »Ich habe gerade mit einer Familie gesprochen, die so gegen halb neun eine Gang Skinheads in vollem Galopp durch Skogskyrkogården hat rennen sehen.«
    »Skinheads?« stieß Hjelm hervor.
    »Es ist ja ihr Stil«, sagte Hultin und zuckte etwas zweideutig mit den Schultern. »Umgeworfene jüdische Grabsteine. Es wäre nicht das erste Mal.«
    »Aber das hier«, sagte Hjelm und zeigte auf den alten Mann, der dort zwischen den Ästen baumelte. »Das wäre das erste Mal.«
    »Richtig. Und wir müssen die Skinheads finden.«
    »Klar. Natürlich.«
    Die Worte wurden klein und belanglos. Es war so ungeheuer widerwärtig. Ihr Schaudern sagte mehr als tausend Worte. Ein alter jüdischer KZ-Insasse, auf einem jüdischen Friedhof in Schweden aufgehängt und gefoltert. Da versagten alle Worte.
    Konnten wirklich schwedische Skinheads diese Tat begangen haben? Und falls es so war, was hatten sie dann mit dem anonymen Vielfraßmann in Skansen zu tun? Waren es Skinheads, die den höchstwahrscheinlich dunkelhäutigen Mann durch die Waldungen von Djurgården verfolgt hatten – genauso, wie sie dann den alten jüdischen Professor durch das Gehölz von Skogskyrkogården verfolgt haben mußten?
    Das klang – unwahrscheinlich. Zwar hatte die A-Gruppe vor nicht allzu langer Zeit eine rechtsextremistische Terrorgruppe bekämpft, die ihre Fühler in alle Richtungen ausgestreckt hatte, wo undemokratische und inhumane Aktivitäten im Schwange waren; zwar hatten sie all diese sogenannten

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