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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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Ziffern. Der Mann ohne Nase sagt ›Sheinkman‹, und er steht ganz still und beobachtet ihn, und der Mann ohne Nase sagt noch einmal ›Sheinkman,‹ und diesmal zeigt er auf sich selbst und ein riesiges Lächeln breitet sich über sein Gesicht aus, und da taucht er aus dem Fluß auf und sieht, daß die U-Bahnstation Sandsborg heißt.
    Da ist er ganz nahe. Der Reiseweg des Tages steht klar vor ihm. Er bildet ein ›U‹. Heute ist er gefahren wie ein
    ›U‹. Es ist der letzte Buchstabe. Und wie ist er gestern gefahren? Er muß noch einmal hinein und den gestrigen Tag durchfahren. Langsam wird er zu einem Zeichen. Zu einem Buchstaben.
    Als der Zug wieder anfährt, geht es nicht mehr durch Tunnel. Er fährt draußen im Licht. Obwohl es Abend ist und nicht sehr hell. Es geht auf den Abend zu, denkt er, und jetzt spürt er diese Gegenwart so deutlich. Der Tod sitzt neben ihm, und fährt mit ihm, er ist ein ganz normaler Mensch.
    Obwohl er sich auflöst; die Konturen des Todes lösen sich auf. Warum das? Darf er auch jetzt nicht sterben? Oder ist es gar nicht der Tod, der ihn verfolgt? Sind es andere – Wesen?
    Alles wird wieder undurchdringlich.
    Ein Durcheinander. Arme, ein Mann ohne Nase, drei Männer im Gegenlicht, Ziffern, die sich bewegen, ein dünner Metalldraht, ein nach unten hängendes Gesicht, ein Buch, in das geschrieben wird, Beine, dünne, dünne Beine, ein Gestank, der sich jeder Beschreibung entzieht.
    Der Buchstabe von gestern war ein ›V‹. Das ist vollkommen klar, als der Zug an der U-Bahnstation Skogskyrkogården hält und er mit zitternden Beinen aussteigt. Es ist ganz selbstverständlich. Er folgt einer inneren Karte.
    Langsam fällt die Dämmerung um ihn her. Auf seinen Stock gestützt, überquert er die Straße und stolpert auf das große Friedhofsgelände. Wie Leuchtbojen beleuchten die Straßenlaternen seinen Weg, und hier und da brennt auf einem Grab ein kleines Licht. Es wird immer weniger Stadt und immer mehr Wald. Nur die Reihen der Grabsteine unterscheiden den Ort von einem Wald. Unter seinen Füßen sind die Toten unterwegs. Die Bäume, die Büsche, die Pflanzen holen sich Nahrung aus verwesenden Körpern. Einen Moment lang denkt er, daß die Vegetation anders aussieht als anderswo.
    Als nähmen Gewächse, die sich von Leichen ernähren, eine andere Form an.
    Er stolpert vorwärts durch den Frühlingsabend. Der Duft frisch ausgeschlagenen Grüns vermischt sich mit dem Gestank des Vergangenen. Eine Wolke von Verwesung liegt über dem Friedhof. Christliche Gräber erfüllen ihn immer mit Unbehagen – endlich beginnt er zu verstehen, warum.
    Die eigentümlich geformten Bäume sind starr. Es ist vollkommen windstill. Dennoch spürt er eine Form von Gegenwart, die nicht mehr die des tröstenden Todes ist. Der tröstende Tod hat ihn verlassen. Die Gegenwart ist greifbar, aber dennoch ist sie nur vage, wie eine Luftspiegelung. Dinge scheinen sich gleitend gerade außerhalb seines Blickfelds zu bewegen.
    Das Entsetzen darf nicht von ihm Besitz ergreifen. Er darf nicht in den Sumpf des Schreckens sinken. Er kämpft sich hoch an die Oberfläche. Gehirngymnastik. Fünf Tage ist er unterwegs gewesen. Es fehlt noch ein Buchstabe von seiner Reise. Der mittlere Buchstabe. Die Reise von vorgestern. Er ruft sie sich in Erinnerung, während er über den großen Friedhof stolpert. Ein Tier läßt sich hören. Ein Käuzchen, das ruft.
    Er erinnert sich daran, daß er weit im Norden aus der U-Bahn gestiegen ist und eine kleine sinnlose Rundtour mit einem Bus gemacht hat. Daraus wurde ein Ring – oder ein Punkt.
    Ein I-Punkt.
    Der dritte Buchstabe ist ein kleines ›i‹. Das bedeutet, daß alle Buchstaben außer dem einleitenden ›E‹ Kleinbuchstaben sind.
    Ohne es zu merken, hat er die christlichen Gräber hinter sich gelassen. Er befindet sich jetzt auf dem Gelände der jüdischen Gemeinde. Bet Hachajím, der Südfriedhof. Auf mehreren Gräbern liegen kleine Steine. Ganz oben auf den Grabsteinen stehen zwei hebräische Buchstaben: ›Hier ruht‹. Unten fünf hebräische Buchstaben, die bedeuten: ›Möge seine/ihre Seele in den Bund des ewigen Lebens aufgenommen werden.‹ Es kommt ihm vor wie zu Hause. Und auch wieder gar nicht.
    Da sieht er im Augenwinkel einen Schatten, der hinter einen Baum gleitet. Und noch einen.
    Er steht still. Das Käuzchen ruft wieder. Es ist ein Todesruf, und das ist völlig logisch. Er steht da und ordnet die fünf Tage seiner letzten Reise. Fünf Buchstaben, und sie

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