Tiefer Schmerz
patriotischen Homepages im Internet gesehen, die bekannte schwedische Juden namentlich nannten, welche an der großen jüdischen Weltverschwörung beteiligt waren – aber dies hier war etwas anderes.
Alles andere als normal.
Mit einem letzten Blick auf den baumelnden alten Mann sagte Kriminalkommissar Jan-Olov Hultin ein wenig unerwartet: »Hauch mich mal an.«
Paul Hjelm starrte ihn an. »Was?« stieß er aus, seinem Chef direkt ins Gesicht.
»Danke«, sagte Jan-Olov Hultin. »Ich brauchte einen Schnaps.«
13
Kerstin Holm starrte den kurzgeschorenen Mann an und gab sich Mühe, grimmig auszusehen. Es fiel ihr ein wenig schwer, grimmig auszusehen, weil es acht Uhr am Sonntagmorgen war und sie an den Nachwirkungen eines rauschenden Fests mit einer Clique von Chor- und Orchestermitgliedern am voraufgegangenen Abend litt, bei dem man die Festbräuche der Familie Mozart befolgt hatte. Außerdem hatte sie erst vor fünf Minuten eine äußerst knappe Übersicht über den Fall erhalten. Während sie dasaß und sich anstrengte, grimmig auszusehen, versuchte sie gleichzeitig, eine Reihe sehr vage angedeuteter Fäden miteinander zu verknüpfen. Es war ein schwieriger Balanceakt, nicht zuletzt weil ihr auch noch schlecht war.
»Ich weiß, daß du nicht richtig vorbereitet bist«, hatte Hultin gesagt, als er sie vor einer Dreiviertelstunde angerufen und geweckt hatte und sie mit schrillenden Kopfschmerzen aus dem Schlaf hochfuhr. Sie wußte nicht, ob sie den Tag überstehen würde, ohne sich zu übergeben, geschweige denn ob sie ein vernünftiges Kreuzverhör mit einem Verdächtigen durchführen konnte, der schon per Definition widerwillig war.
»Aber«, hatte Hultin weiter gesagt, »du bist unsere beste Verhörleiterin. Und Paul wird dabei sein.«
Als ob das ein Trost wäre. Hjelm saß neben ihr und sah aus, als ginge es ihm noch schlechter als ihr. Jenseits von Gut und Böse. Sie überflog die Papiere, die vor ihr lagen, und versuchte, kompetent zu wirken.
Sie betrachtete den Mann ihr gegenüber in dem sterilen Vernehmungsraum und versuchte, ihn sich als raffinierten Mörder vorzustellen. Es war schwierig. Er sah aus wie ein kleiner Rotzjunge mit Muffensausen. Allerdings, dachte sie und machte sich hart, er ist ja immerhin Skinhead.
»Also dann, Andreas Rasmusson«, begann sie und blickte den Jungen fest an. »Du bist heute nacht, dem vorläufigen Bericht zufolge, ›wie ein Gespenst‹ auf dem Hauptbahnhof herumgeirrt. Und heute früh bist du also von einer Familie erkannt worden, die gestern abend um halb neun auf dem Waldfriedhof war, um Blumen auf Großmutters Grab zu legen. Du kamst da aus der Richtung des jüdischen Friedhofs gelaufen, wo gerade zehn Gräber geschändet worden waren. Deine Fingerabdrücke sind auch auf einer zerschlagenen Schnapsflasche, die dort lag. Du bist achtzehn Jahre alt und nicht vorbestraft, und jetzt erzähle uns, was passiert ist. Dann ist es möglich, daß du das bleibst, also nicht vorbestraft.«
Paul Hjelm betrachtete Kerstin Holm. Ihm war nicht gut. Sie dagegen wirkte total unberührt von der mißlichen Lage und der unchristlichen Tageszeit und den Ausschweifungen des voraufgegangenen Abends. Wie konnte sie so unberührt sein?
Kerstin Holm spürte, daß sie sich übergeben mußte. Sie stand auf und sagte streng – wenn auch mit etwas gepreß ter Stimme: »Denk ein paar Minuten nach über das, was ich gesagt habe.«
Und weg war sie.
Aha, dachte Hjelm. Neue verhörtechnische Experimente. Hübsch.
Er betrachtete Andreas Rasmusson. In ein paar Jahren würde er aller Wahrscheinlichkeit nach das Leben als Skinhead verlassen und in die Gesellschaft eintreten. Er würde von seinem früheren Leben Abstand nehmen – aber vermutlich nie die Ideen hinter sich lassen. Er würde das eine sagen und die ganze Zeit etwas anderes denken. Und das war ein explosiver Zustand. Früher oder später würde er hochgehen und ihm um die Ohren fliegen.
Einen Augenblick verweilten Paul Hjelms Gedanken beim Zustand. Dem schwedischen Zustand. Er war sich nicht sicher, ob er ihn verstand. Der Markt regierte, soviel war klar. Aktienwert hatte Menschenwert ersetzt. Die Frage war nicht so sehr, was das in der Gegenwart bedeutete, weil das ziemlich offenkundig war: wirtschaftliche Umverteilung von Armen zu Reichen. Was Geld brachte, war Geld, nicht Arbeit, und dieses Geld mußte ursprünglich irgendwo hergekommen sein. Das Gerede von ›Volksaktien‹ und ›Allgemeinfonds‹ war ein blasses Alibi dafür,
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