Tiefer Schmerz
Kungsholmen herrschte so etwas wie ein passives Chaos. Einerseits gab es Massen von losen Fäden, aus ganz unterschiedlichen Richtungen, anderseits gab es nichts, wo man ansetzen konnte. Es war schließlich Sonntag. Der christliche Sabbat.
Waldemar Mörner, Abteilungsleiter bei der Reichspolizeibehörde und formeller Chef der ›Spezialeinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter‹, war am Zug. Da dies ein Teil des Alltags war und kein spezielles Feiertagsereignis, mußte er in den Fluren umherlaufen, ohne daß jemand von ihm Notiz nahm.
Er öffnete die Tür zu Kriminalkommissar Jan-Olov Hultins Zimmer und zeigte auf die Uhr. »Pressekonferenz in fünfzehn Minuten, J.O. Klare Kante.«
Und damit wurde die Tür wieder geschlossen.
Die Eheleute Jorge Chavez und Sara Svenhagen, die gerade erst über die Lage informiert wurden, da sie den ganzen Vormittag nicht anzutreffen gewesen waren, wurden in ihren Gedankenbahnen von diesem Ausdruck aufgehalten. Klare Kante? Welche Weisheit verbarg sich hinter diesem geflügelten Wort?
Hultin schnitt eine kleine Grimasse und sagte: »Immerhin war er Nobelpreiskandidat.«
Zwei Sekunden danach flog die Tür auf, und Mörners dichtes blondes Haar – das allgemein als Toupé angesehen wurde – wehte wieder herein. In äußerster Erregung schnaubte sein Träger: »Immerhin war er Nobelpreiskandidat.«
Sara und Jorge starrten Hultin an, der nur vielsagend mit den Schultern zuckte.
Waldemar Mörner hastete weiter. Jetzt war Eile angesagt. Er riß die nächste Tür auf und erblickte zwei ausgewachsene Herren mittleren Alters, die mit Papierkugeln nach einem Papierkorb zielten.
»Was tut ihr hier?« stieß er verwundert aus.
»Dies hier ist unser Zimmer«, sagte Gunnar Nyberg.
»Wir sind zum Sonntagsdienst herbeordert worden«, sagte Viggo Norlander.
Das war richtig. Die ganze A-Gruppe war zum Sonntagsdienst herbeordert worden. Und als sie zur Stelle war, gab es nicht viel zu tun. Der Beschluß konnte möglicherweise als übereilt bezeichnet werden. Und Waldemar Mörner hatte ihn gefaßt.
»Aber wo ist Holm?« röhrte er mit einer Stimme, in der die ganze Fassungslosigkeit des Weltalls mitschwang.
»Es ist nicht ganz undenkbar«, sagte Nyberg, »daß sie in ihrem Zimmer ist.«
»Und nicht in unserem«, verdeutlichte Norlander.
Mörner hastete weiter den Flur entlang, den Blick auf seine nagelneue, aber keineswegs echte Rolex geheftet. Dreizehn Minuten vor eins. Und die Weltpresse wartete vor der Tür. Gleich würde er hinausschreiten und den Namen des Nobelpreisträgers in sechs verschiedenen Sprachen verkünden.
Nein, ganz so nicht.
Er riß eine weitere Tür auf. Nein, wieder nicht richtig. Es war die Damentoilette.
Er wollte gerade weiterbrausen durchs Präsidium, als Kerstin Holm von einem Waschbecken aus zu ihm hochstarrte, an dem sie sich Wasser in das ziemlich bleichnasige Gesicht spritzte.
»Was tust du hier?« stieß er hervor.
»Sollte ich das nicht eher dich fragen?« sagte sie und gurgelte.
»Aber genau dich wollte ich sprechen«, sagte er verwirrt.
»Und …«, sagte sie belehrend und begann sich das Gesicht mit einem Handtuch abzutrocknen, das deutliche Gebrauchsspuren aufwies.
»Ich brauche dich«, sagte Waldemar Mörner wie ein leidenschaftlicher Liebhaber unter dem Balkon.
Kerstin Holm legte das Handtuch zur Seite, verzog das Gesicht zu einer grimmigen Miene und fixierte ihn skeptisch.
»Pressekonferenz«, verdeutlichte er und zeigte auf seine falsche Rolex. »Es eilt. Noch zwölf Minuten. Elf.«
»Du brauchst eine weibliche Geisel«, sagte sie in einem Ton, der Feuer zu Eis hätte gefrieren lassen.
»Genau«, sagte Mörner, ohne die geringste Temperaturveränderung wahrzunehmen.
»Ich bin krank«, sagte Kerstin Holm und griff wieder zum Handtuch. »Versuch es bei Sara.«
»Aber sie ist doch noch ein Kind.«
»Um so besser.«
Waldemar Mörner verharrte tatsächlich einige Sekunden auf der Damentoilette und überlegte.
So kam es, daß Sara Svenhagen, ohne mehr als notdürftig über die Lage informiert zu sein, direkt vom Schwimmtraining im Eriksdalsbad kommend, zwischen Waldemar Mörner und Jan-Olov Hultin auf dem Podium in einem großen Saal im Polizeipräsidium landete und an einem Strauß speichelgetränkter Mikrophone roch. Sie starrte in die Fernsehkameras und spürte, wie sich ihr gechlortes Haar sträubte.
Paul Hjelm saß in seinem Zimmer und machte Notizen in Form eines Koordinatensystems, als das Bild des grünlichen
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