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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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legen sich wie Spielkarten hintereinander. Zuerst ›E‹, dann ›p‹, danach ›i‹, dann ›v‹ und zuletzt ›u‹. ›Epivu‹.
    Vollkommen sinnlos. Tragisch, mit noch einem undurchdringlichen Rätsel auf den Lippen zu sterben. Er lacht still. Ein Galgenlachen.
    Doch da geschieht etwas Seltsames. Auch die Bilder legen sich in Ordnung hintereinander wie Spielkarten, in glasklarer Ordnung.
    Er setzt sich wieder in Bewegung. Viel Bewegung ist es jedoch nicht. Er taumelt, halb über dem Stock hängend. Die Natur um ihn her ist wie in gleitende Schatten gehüllt, die Bäume scheinen sich zu bewegen, ein Wald, der näher kommt, und er nimmt die erste Spielkarte und sieht sie an.
    Und sein ganzes Leben ändert den Charakter.
    Da sieht er durch die Dunkelheit, daß mehrere Grabsteine umgestürzt sind. Einer ist zersplittert. Und natürlich ist es der. Der, zu dem er die ganze Zeit unterwegs gewesen ist. Er lacht kurz. Er hört sein eigenes Lachen, und es gibt ein leeres Echo. Unglaublich leer.
    Es ist vollkommen logisch, daß dieser Grabstein zerstört ist. Er kniet daneben nieder und blickt auf. In einigem Abstand erkennt er mehrere Gestalten. Sie johlen und werfen Flaschen und zerschlagen weit dort drüben noch einen Grabstein, und ihre Schädel sind kahl. Er seufzt auf und befingert den zerstörten Grabstein. Er ist enttäuscht. Sind es Skinheads, die sein Schicksal werden? Neonazis? Wie – banal.
    Er schaut die inzwischen so gut sortierten Bilder in seinem Innern durch. Es ist wohl jene Klarheit kurz vor dem Tod. Das Leben, das Revue passiert.
    Ja, denkt er. Es ist vollkommen, vollkommen klar. Richtig. So ist es.
    Damit kann man natürlich nicht leben.
    Da versteht er auch die Buchstaben. ›Epivu‹. Natürlich.
    Man muß nur die Perspektive wechseln.
    Es ist kein Punkt über dem ›i‹.
    Und nicht die Skinheads sind sein Schicksal. Es ist ein gutes Gefühl. Gerechter.
    »Ihr habt lange gejagt«, sagt er laut, und er weiß nicht, in welcher Sprache er es sagt.
    »Ja«, antwortet eine Frauenstimme. »Ziemlich lange.«
    Er fühlt, wie er hochgezogen wird. Es ist stockdunkel. Urzeitdunkel. Der eiskalte Wind heult. Sein Körper dreht sich. Alles steht auf dem Kopf. Er sieht den Mond zwischen seinen Füßen hervortreten. Er hört die Sterne in Lichtjahrgesang ausbrechen. Er sieht das Dunkel sich verdunkeln.
    Jetzt sieht er ein Gesicht. Es steht auf dem Kopf. Es ist eine Frau, die der Mann ist, der unverbrüchlich treu mehr als ein halbes Jahrhundert gewartet hat, und die ihn jetzt auf die Fähre über den Todesfluß geleitet, der endlich, endlich aus seinem Innern hervorströmt. Und er ist es, dessen Kopf nach unten hängt.
    Da kommt der Schmerz.
    Um ein halbes Jahrhundert verzögert.
    Und er ist genau so, wie er ihn sich vorgestellt hat.

12
    »Aber Himmel, Arsch und Zwirn«, sagte Jan-Olov Hultin. »Riechst du nach Gin?«
    »Nix da«, sagte Paul Hjelm. »Möglicherweise eine Spur Dry Martini.«
    Der Mond glitt sachte zwischen unsichtbaren Wolken hervor, und der Ort änderte seinen Charakter. Es war kein feuchter, finsterer Urwald mehr, in dem es von unsichtbarem Leben wimmelte, es war die karge, grausame, erstarrte Wohnung des Todes. Im gleichen Maße wie der Mond traten die Grabsteine in Erscheinung, einer nach dem anderen, bis alles aussah wie in einem Gedicht von Edward Young.
    Grabpoesie.
    »Sind die anderen hier?« fragte Hjelm.
    »Der einzige, den ich erreichen konnte, war Gunnar, und er war in Östhammar. Die andern hatten ihre Handys abgeschaltet – und ich verstehe sie. Und du, wie zum Teufel bist du hergekommen? Ich hoffe, du bist nicht selbst gefahren …«
    »Taxi«, sagte Hjelm kurz, während sie den schmalen Pfad entlanggingen, an dem der christliche Friedhof Skogskyrkogården in den jüdischen Südfriedhof übergeht. Die Grabsteine sahen ein wenig anders aus – aber im Grunde war es kein großer Unterschied.
    Ein Platz für Tote.
    »Erzähl mal«, sagte Hjelm, während sie um eine Ecke bogen und eine Traube uniformierter Polizisten sichtbar wurde. Sie wirkten bleich in dem schwachen Mondlicht. Um sie herum verlief das obligatorische rot-weiße Plastikband, und die beiden Kriminalbeamten tauchten darunter durch und betraten den Kreis.
    »Ich fange ohne Vorrede an«, sagte Hultin und nickte einem der Polizeiassistenten zu. Der fingerte irgendwo im Dunkeln, und ein starker Scheinwerfer wurde angeschaltet. Hjelm war sofort geblendet. In dem flammenden, gleißenden Feuermeer, das hinter seinen Lidern

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