Tiefer Schmerz
Gesprächsliste produziert werden kann. Das ist eigentlich unsere größte Hoffnung. Dann muß ich gestehen, daß ich mir dieses Handy einmal vorgenommen habe – ein gutes altes großes Siemens E10 übrigens – und mich gefragt habe, wie man ein Handy benutzen kann, ohne einen einzigen Fingerabdruck daran zu hinterlassen.«
»Und dann haben wir den Sprachexperten«, sagte Kerstin, »der das zweifelhafte Vergnügen haben wird, mit Gunnar und Viggo und einem Polizeiassistenten namens Andersson über Phonetik und Slawistik zu diskutieren.«
»Haben wir noch mehr?« fragte Paul Hjelm und schrieb, als ginge es ums Leben. »Handy, Gesprächsliste, Sprachexperte.«
»Ich frage mich natürlich, was wir dem Verhalten unserer Ninja-Feministin auf dem Bahnsteig entnehmen können«, sagte Jorge Chavez. »Es ist so perfekt. Ping, ping, und die Angreifer sind weg. Aber sie läßt sich das Telefon aus der Hand nehmen. Was passiert eigentlich? Okay, sie wird von Hamid wüst angegangen, er fuchtelt mit dem Messer herum und alles, aber trotzdem. Muß sie ihn wirklich wie eine Schubkarre über den Bahnsteig schieben und ihn vor den Zug stoßen? Hätte nicht ein weiterer Tritt ins Gesicht es auch getan? Er muß doch schon fertig gewesen sein. Was geht da vor? Ist es reiner Sadismus?«
»Ich glaube tatsächlich«, sagte Kerstin Holm, »daß sie da schon kalkuliert hat. Sie rechnet damit, daß das Handy zertrümmert wird. Daß dies nicht geschieht, ist ein Wunder. Beide Arme gerieten also, dem Obduktionsprotokoll zufolge, unter den Zug, wurden abgerissen und unter den Wagen weitergeschleudert. Und die Finger schützen das Handy, und es bleibt ganz. Reines Glück.«
»Siemensqualität«, sagte Hjelm. »Denk an die Öfen.«
»Was für Öfen?«
»Die Krematoriumsöfen in den Konzentrationslagern der Nazis. Das war Siemens.«
Eine Weile war es still. Ein Geist glitt durch den Raum. Der Geist von Prof. em. Leonard Sheinkman. Es war, als wollte er etwas.
Sie erschauerten.
»Eins haben wir vergessen«, sagte Paul Hjelm nach einer Weile und blickte auf sein umfangreiches Schema.
»Was denn?« sagten zwei hoffnungsvolle Stimmen im Duett.
»Ist das hier nicht Hultins Job?«
14
Es war Sonntagnachmittag, und die drei fuhren in drei Wagen zu drei Adressen. Das Los hatte entschieden. Auf Chavez’ Zettel stand ›Channa Nordin-Sheinkman, Kungsholmen‹, auf Holms ›David Sheinkman, Näsbypark‹ und auf Hjelms › Harald Sheinkman, Tyresö‹. Diese drei waren offenbar die Kinder des Professors, und wenn man bedachte, daß er achtundachtzig war und erst im Alter von dreiunddreißig Jahren 1945 nach Schweden gekommen war, dürften seine Kinder um die Fünfzig sein. Vielleicht zehn Jahre älter als er selbst, dachte Paul Hjelm.
Erst auf dem Weg nach Tyresö merkte er, daß die Adresse, zu der er unterwegs war – Bofinksvägen in Nytorp – mit Leonard Sheinkmans Adresse aus dem Telefonbuch übereinstimmte.
Anscheinend hatte er bei seinem ältesten Sohn gewohnt.
Paul Hjelm quälte sich zwischen Sonntagsfahrern auf dem Tyresöväg dahin und empfand eine gewisse Erleichterung darüber, daß es ihm erspart blieb, die Todesbotschaft zu überbringen; der schreckliche Tod des Vaters konnte dem Sohn kaum unbekannt geblieben sein – so wie er den ganzen Tag in den Medien hinausposaunt worden war. Außerdem war zu hoffen, daß die örtliche Polizei die Nachricht vom Tod des Vaters überbracht hatte.
Die Sonne stand schon tief, und der Himmel war auf ungewöhnlich dunkle Weise blau. Dennoch war es nicht richtig so, wie wenn eine heimtückische Gewitterwolke sich als klarblauer Himmel verkleidet und mit einem finsteren Lachen die grobe Artillerie auf verblüffte Sonnenanbeter losläßt. Es war eher so, als wäre eine Haut von Blau über das Firmament geklebt worden, um zu verdecken, daß der Himmel nicht mehr blau war. Ein schwerer Druck lastete auf der schönen Frühlingslandschaft, und das Licht wirkte künstlich, als hätte ein Bühnenbildner versucht, Natur zu imitieren.
Oder es war einfach nur Paul Hjelm, den es graute.
Den es davor graute, in ein Trauerhaus einzudringen. Davor graute, trauernden Menschen seine konventionellen Fragen zu stellen. Den es graute bei dem Gedanken, blond und ein säkularisierter Christ zu sein und in einer geschützten Werkstatt aufgewachsen zu sein. Und – am Ende kam das eigentliche Eingeständnis – den es davor graute, die Judenvernichtung und die Konzentrationslager und den europäischen
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