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Tiefer Schmerz

Tiefer Schmerz

Titel: Tiefer Schmerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arne Dahl
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wahrscheinlich«, sagte Ludmila Lundkvist. »Aber es kommt ganz darauf an, ob meine Rekonstruktion richtig ist.«
    »Sie ist auf jeden Fall sehr überzeugend«, sagte Gunnar Nyberg, stand auf und streckte ihr die Hand hin. Sie nahm sie und hielt sie einen ganz kleinen Moment zu lange. Er fühlte, daß er sie wie ein Idiot anstarrte.
    Sie standen draußen in dem unansehnlichen Unikorridor. Es gab nichts zu sehen, wirklich nichts. Der Aufzug kam, die Tür glitt auf.
    Da sagte Viggo Norlander: »Du sollst hier nicht mitfahren, Gunnar.«
    »Was?« sagte Gunnar Nyberg.
    »Du sollst wieder zu der Dozentin hineingehen und sie für heute abend zum Essen einladen.«
    »Was soll das heißen?«
    Viggo Norlander hielt die Aufzugtür fest, beugte sich zu Gunnar Nyberg vor und flüsterte: »Du bist vielleicht ein viel smarterer Mensch als ich, Gunnar, aber hierauf verstehe ich mich besser. Selten habe ich weibliches Begehren so bloßgelegt gesehen.«
    Gunnar starrte lange auf die geschlossene Aufzugtür.
    Dann wandte er sich zurück in den Gang. Seine Herzschläge hallten durch die slawischen Flure wie afrikanische Trommeln.

18
    Drei Männer in blauen Arbeitsoveralls wanderten zwischen den zerstörten Grabsteinen umher und fuhren die Stücke auf Schubkarren fort. Sie behandelten die Brocken wie schwerverletzte Wesen, die bald versorgt werden würden.
    Jorge Chavez stand im Schatten der Eiche, an der Leonard Sheinkman gehangen hatte; als er nach oben blickte, sah er, daß an einem Ast in vier Meter Höhe die Rinde abgeschabt war. Er versuchte, einen Kletterweg am Stamm des Baums zu rekonstruieren. Es konnte nicht leicht gewesen sein, hinaufzukommen. Die Äste waren dünn und sahen bis oben hin brüchig aus. Derjenige, der den alten Mann aufgehängt hatte, mußte ungewöhnlich leicht, geschmeidig und stark gewesen sein.
    Und unfaßbar grausam.
    Die Sonne breitete eine versöhnliche Decke über dem Südfriedhof aus. Vermutlich war das eine Täuschung. Vermutlich würde es niemals möglich sein, ein so abstoßendes, feiges, erbärmliches Verbrechen zu sühnen. Vermutlich fiel der Täter ewiger Verdammnis anheim.
    Ewig war jedenfalls die Erde auf einem jüdischen Friedhof, so viel wußte Jorge Chavez. Der Friedhof, Bet Hachajím, darf nie verlegt werden. Es ist ein heiliger Ort, heiliger Boden, der Vorhof der Ewigkeit, und es gibt eine ganze Reihe von ungeschriebenen Gesetzen, die diese Heiligkeit unterstreichen sollen: Man darf auf dem Friedhof weder essen noch trinken, noch rauchen, man darf nicht über die Gräber gehen, und man soll zum Zeichen der Ehrfurcht eine Kopfbedeckung tragen.
    Chavez beugte sich nieder und rührte an die Reste des Grabsteins, auf dem ›Shtayf‹ gestanden hatte. Er verglich mit den anderen Gräbern. Alle Grabsteine hatten ungefähr die gleiche Form. Ganz oben standen zwei hebräische Buchstaben, die, wie er wußte, ›Hier ruht‹ bedeuteten, dann kamen der Name, das Geburtsdatum, das Todesdatum und ein Symbol, meistens ein Davidstern oder der siebenarmige Leuchter. Ganz unten auf allen Grabsteinen in seinem Gesichtsfeld standen fünf hebräische Buchstaben, die bedeuten sollten: ›Möge seine (oder ihre) Seele aufgenommen sein in den Bund des ewigen Lebens.‹
    Es war noch genug da von Shtayfs Grabstein, um erkennen zu lassen, daß darauf weder Vorname noch Geburtsdatum gestanden hatten, nur ›Shtayf‹ und das Todesdatum: 7. September 1981. Die Frage war also, ob dieser mystische Shtayf, über dessen zerstörtem Grabstein Leonard Sheinkman seinen Tod gefunden hatte, etwas mit ihm zu tun gehabt hatte. Es war vielleicht ein ganz kleines bißchen weit hergeholt.
    Longshot, wie es in amerikanischen Filmen hieß.
    Aber auch solche konnten ja dann und wann treffen.
    Chavez löste sich aus dem Schatten und sprang gewandt über das rot-weiß gestreifte Plastikband mit der Aufschrift ›Polizei‹. Die drei Overallmänner drehten sich um und betrachteten ihn.
    Er war über ein Grab gegangen.
    »Es tut mir leid«, rief er und hielt seinen Polizeiausweis hoch. »Ich fürchte, ich bin aus Versehen über ein Grab gegangen.«
    Der älteste der drei Männer kam ihm entgegen. Er sah osteuropäisch aus – wie ein Schachspieler im Kulturhaus, dachte Chavez mit einem Vorurteil.
    »Man soll nicht über Gräber gehen«, sagte der Mann ernst, »und man soll eine Kopfbedeckung tragen.«
    Es war offenbar nicht das erste Mal, daß er diese Worte äußerte, denn aus seiner Tasche zauberte er eine kleine Mütze hervor, eine

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