Tiefer Schmerz
»Sie sprechen zwei verschiedene Sprachen, die ganz ähnlich klingen können. Hier ist die erste.«
Sie drückte auf eine Taste des Kassettenspielers auf dem Schreibtisch. Eine Männerstimme begann gleitende Diphthonge herunterzuleiern. Dann entstand eine Pause.
In dieser Pause sagte Ludmila Lundkvist: »Jetzt kommt gleich die zweite Stimme.«
Und die zweite Stimme setzte ein. Es klang ähnlich und doch nicht gleich. Auch hier gleitende Diphthonge, aber nur ähnlich. Als die Stimme geendet hatte, fragte die Dozentin für slawische Sprachen: »Welche von den beiden Sprachen war es, die Sie gehört haben?«
Hubald Andersson zeigte sinnlos auf den Kassettenspieler.
Sonst war es still im Raum.
»Es handelt sich um dieselbe Stimme, die den gleichen Text in zwei verschiedenen Sprachen sagt«, verdeutlichte Ludmila Lundkvist. »Gunnar?«
Gunnar begriff noch immer nicht, warum ausgerechnet er zum Lieblingsstudenten ausgewählt worden war, doch er spürte den Druck. Er strengte seine Erinnerung bis zum äußersten an und sagte. »Die zweite. Da ist etwas mit dem Klangbild im ersten, was nicht richtig stimmt. Die Diphthonge«, tippte er blind.
Ludmila Lundkvists Gesicht leuchtete auf. »Und Sie beide?« fragte sie in gleichgültigem Tonfall.
»Vielleicht«, meinte Hubald Andersson.
»Schon möglich«, sagte Viggo Norlander.
Die Dozentin sah die Zettel durch und sagte: »Meine Beurteilung Ihrer ziemlich unterschiedlichen Buchstabenkombinationen stimmt mit Ihrer, Gunnar, überein. Es ist die zweite. Die erste Stimme sprach russisch, die zweite ukrainisch. Die meisten wissen nicht einmal, daß Ukrainisch eine eigene Sprache ist. Dabei wird es von fünfzig Millionen Menschen gesprochen. Früher hieß es ›Kleinrussisch‹ und war bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts nicht als selbständige Sprache anerkannt. Es ist übrigens deutlich vom Polnischen beeinflußt, und gewisse Laute liegen irgendwo zwischen den russischen und den polnischen. Der auffälligste Unterschied im Klangbild, wie Sie, Gunnar, es ganz richtig gesagt haben, ist, daß das unbetonte ›O‹ erhalten bleibt, während es im Russischen reduziert wird, und daß das russische ›G‹ zu stimmhaftem ›H‹ geworden ist.«
Sie betrachtete die mit offenen Mündern dasitzenden Polizisten und schaltete den Kassettenspieler wieder ein. Während es noch still war, sagte sie: »Was Sie gehört haben, waren die klassischen Einleitungszeilen von Der Mantel des Ukrainers Gogol. Jetzt hören wir uns etwas anderes an, nämlich meinen Versuch einer Rekonstruktion dessen, was Sie auf diese Zettel gekritzelt haben. Ich lese es selbst, weil es eine Frauenstimme war, die Sie gehört haben. Passen Sie genau auf, und versuchen Sie zu hören, ob es stimmt.«
Es war noch immer still. Der Kassettenspieler rauschte nur. Wie ein frustrierter Studioreporter, der auf eine Einspielung wartet, die nicht kommt, sagte Ludmila Lundkvist: »Es muß sofort kommen.«
Und so war es.
Gunnar Nyberg mochte zwar die Richtung suggeriert worden sein, doch er fand schon, daß Ludmilas samtweiche Stimme ziemlich ähnlich klang wie jene, die er aus dem Handy gehört hatte, das er auf dem U-Bahngleis der Station Odenplan aus Hamid al-Jabiris Hand gerissen hatte.
Und das sagte er: »Es ist ziemlich ähnlich. Das kann es sehr wohl gewesen sein.«
»Ja«, sagte Viggo Norlander.
»Warum nicht?« sagte Hubald Andersson.
Ludmila Lundkvist sagte; »Wenn das stimmt, dann sagt die Stimme, in schwedischer Übersetzung: ›Alle gut durch. Dreihundertzweiundsiebzig bei Lublin.‹ Dann folgt diese Pause. Dann sagt sie: ›Fotze‹ und legt auf.«
»Fotze?« platzte Hubald Andersson heraus.
»Ich sagte es«, gab Ludmila Lundkvist angewidert zurück.
Gunnar Nyberg fragte: »Keine Namen?«
»Leider nein.«
»Aber Lublin müßte Ihnen vielleicht etwas sagen, Ludmila …«
»Ihnen auch, Gunnar. Sie kennen doch Isaac Bashevis Singer, den einzigen Literatur-Nobelpreisträger in jiddischer Sprache? 1960 hat er einen magischen kleinen Roman mit dem Titel Der Zauberer von Lublin geschrieben. Lublin ist eine Stadt in Polen. Sie liegt an der Europastraße 372 ungefähr hundert Kilometer südlich von Warschau. Und vielleicht zehn Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Die E 372 führt also in die Ukraine.«
»›Alle gut durch‹«, sagte Gunnar Nyberg nachdenklich.
»›Dreihundertzweiundsiebzig bei Lublin‹. ›Durch‹ heißt also vermutlich ›durch den Zoll‹.«
»Das wirkt sehr
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