Tiefer Schmerz
Marconis umfassende Information.
»Dies als Hintergrund«, fuhr er fort. »Die italienischen Verbrecherorganisationen, die ein bißchen im Schatten der russischen gelandet sind, sind jetzt dabei, sich an die Entwicklung in der modernen Sklavenhandelsbranche anzuhängen. Man kauft routinierte Zuhälter ein und schickt sie in Europa herum, um freie Prostituiertenställe zu übernehmen. Nikos Voultsos war ein solcher Zuhälter, mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Verbrechersyndikat hier in Mailand ausgesandt. Allem Anschein nach fing dieses Syndikat ihn bereits 1993 auf, als er drei Prostituierte ermordete, die versucht hatten, ihm in Piräus zu entfliehen. Die Organisation in Mailand, Ghiottone genannt, hielt ihn für eine brauchbare Kraft und holte ihn her. Ich habe mein gesamtes berufliches Leben dieser Organisation gewidmet, und ich habe erkannt, wie tief sie in die norditalienische Gesellschaft hineinreicht. Deshalb muß ich so unendlich behutsam vorgehen. Alles deutet darauf hin, daß sehr hochgestellte Persönlichkeiten der Gesellschaft in verschiedener Weise mit Ghiottone verquickt sind. Ich muß Sie also bitten, mindestens ebenso behutsam vorzugehen wie ich. Ein unvorsichtiger Schritt von Ihrer Seite, Signor Sadestatt, und die Arbeit von Jahrzehnten geht verloren. Es ist wichtig, daß Sie das verstehen. Aber Sie sehen ja vollkommen weiß aus.«
»Ich bin weiß«, sagte Söderstedt und sah ein, daß er eher grün war. »Das ist meine Natur.«
Er erlaubte sich, die Zigarette halb geraucht auszudrücken; das sollte wohl reichen als Nachweis seiner sozialen Kompetenz.
Marconi betrachtete skeptisch die Zigarette und das leere Grappaglas, fuhr aber nichtsdestoweniger fort: »Nach unendlicher Arbeit haben wir die Spinne im Netz ausgemacht; wir sind ziemlich sicher, daß ein hoch respektierter Bankier aus dieser Stadt der Kopf hinter dem Verbrecher syndikat Ghiottone ist. Er ist auch in der Kommunalpolitik aktiv und eine der treibenden Kräfte hinter der Lega Nord, wenn Ihnen das etwas sagt.«
»Die Separatistenpartei im Norden, die das Land in ein reiches Norditalien und ein armes Süditalien trennen will«, schluchzte Söderstedt.
»Ungefähr so, ja. Ich will hier nicht den Namen dieses Mannes nennen, doch die Ursache dafür, daß wir Nikos Voultsos haben gewähren lassen, obwohl er unter dem begründeten Verdacht steht, mindestens fünf schwere Straftaten begangen zu haben, ist die, daß wir es auf dickere Fische abgesehen haben. Wenn wir Ghiottone vom Kopf her zerschlagen können, werden alle in der Organisation ins Gras beißen. Und jetzt zeigt es sich ja, daß es auch gar nicht nötig war. Ihre Otter haben uns diesen Teil der Arbeit abgenommen.«
»Ich verstehe«, sagte Söderstedt und fühlte, daß zumindest das eine und andere kleine Pigment nach der Flucht in sein Gesicht zurückzukehren begann. Und da er immer noch nicht darauf kam, was Vielfraß auf englisch hieß, ließ er die zoologischen Unrichtigkeiten auf sich beruhen und fuhr statt dessen fort: »Und das Motiv für den Mord an Voultsos?«
»Konkurrenten«, sagte Marconi nonchalant. »Es findet wie gesagt ein Krieg statt in Europa, in dem es um die Kontrolle über die Prostitution geht. Allem Anschein nach ist es ein osteuropäisches Verbrechersyndikat mit Ambitionen in Schweden, das ihn aus dem Weg geräumt hat. Mit Hilfe der Dachse.«
Söderstedt nickte. Marconi hatte sich offenbar vorgenommen, jedes einzelne Mitglied der Marderfamilie auf diesem Planeten durchzugehen – außer dem Vielfraß. Das irritierte ihn ein wenig.
Marconi hielt ein Papier hoch, das aussah wie ein Fax.
»Ihr Auftrag ist offiziell sanktioniert, Signor Sadestatt. Sie sind offenbar vorläufig zur europäischen Organisation für polizeiliche Zusammenarbeit, Europol, abkommandiert. Das bedeutet formal gesehen, daß Sie Zugang zu meinem gesamten Untersuchungsmaterial bekommen sollen. Wie steht es mit Ihrem Italienisch?«
»Es ist nicht konversationstauglich«, sagte Söderstedt.
»Aber ich kann es einigermaßen lesen.«
»Ausgezeichnet«, sagte Marconi und überreichte seinem frischgebackenen Europakollegen eine würfelförmige Schachtel. Söderstedt starrte sie verwundert an.
Marconi fuhr fort: »Eine Sammlung von CD-Rom mit der gesamten Ghiottone-Ermittlung. Ich gehe davon aus, daß Sie einen Computer haben.«
Söderstedt nickte. Er hatte seinen Laptop hauptsächlich dazu benutzt, Hearts zu spielen, ein banales, aber beruhigendes Spiel, das unter Windows lief.
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