Tiefer Schmerz
Viggo.«
»Jaja, Glückwunsch, alter Rammler«, sagte Hjelm.
Und noch ein paar weitere Glückwünsche wurden gemurmelt, bevor Norlander unberührt fortfuhr: »Die Umstände, unter denen der Zuhälter Finn Johansen zu Tode kam, liegen, wie bekannt, im dunkeln. Die Pistole, mit der er sich erschoß, dürfte drei Minuten nach der von Nikos Voultsos hergestellt worden sein. Außerdem waren die Schalldämpfer identisch. I rest my case.«
»Wer war der Mann?« fragte Kerstin Holm. »Wie bekam er Kontakt zu den Frauen in Slagsta? Hat er sie hergeholt?«
»Finn Johansen scheint nicht der Typ gewesen zu sein, der Huren ›herholte‹«, sagte Viggo Norlander. »Dagegen hatte er eine gewisse Fähigkeit, neue freie Strichmädchen aufzuspüren. Seine Spezialität war es, Bräute ohne Beschützer zu finden. Und so ist es wohl zugegangen. Ich habe mir den Hintergrund des Norrboda-Motel ein wenig angesehen. Wie kam es, daß acht Huren vier unmittelbar nebeneinanderliegende Räume teilten? Offenbar war es nicht Jörgen Nilsson, der das bestimmte. Er wurde zu einem späteren Zeitpunkt einbezogen, und zwar von Finn Johansen. Ich glaube, es ging folgendermaßen vor sich: Botkyrkas Flüchtlingsunterkunft war überfüllt. Bei der Verlegung konnten alleinstehende Asylsuchende offenbar Wünsche äußern, mit wem sie ein Zimmer teilen wollten. In der alten Unterkunft wohnten nur zwei von diesen acht zusammen. Ich glaube, daß sie sich fanden und beschlossen, zusammenzuarbeiten. Es ist durchaus möglich, daß einige von ihnen nicht auf den Strich gingen, bevor sie herkamen. Obwohl die Porträts eher klassischen Hurenbildern gleichen. Finn bekam jedenfalls Wind davon, daß dieser gewinnbringende Puff existierte, ging hin und beschützte sie und versorgte sie mit Drogen. Ich tippe mal, daß es so vor sich ging. Ich habe mit einer Reihe von Huren geredet und …«
»Kannst du nicht damit aufhören, ›Huren‹ zu sagen?« sagte Kerstin Holm.
»Warum denn? Es sind doch Huren.«
»Das Wort hat so etwas Gewalttätiges an sich. Es ist wie eine Vergewaltigung jedesmal, wenn man es sagt.«
Paul Hjelm sah sie ein bißchen vorsichtig von der Seite an.
»Ich will es versuchen«, sagte Viggo Norlander. »Aber alte Hunde sind alte Hunde.«
»Wie wahr«, sagte Kerstin Holm.
»Ich habe also mit einer Reihe von Mädchen geredet (ohne zu stocken, dachte Viggo zufrieden), die zu Finns Puff gehörten. Er konnte offenbar hart sein, aber wenn man sich nichts herausnahm, war er einer der reelleren Zuhälter auf der Straße. Das bedeutet wohl nur, daß sie ein bißchen weniger häufig gezwungen wurden, die gynäkologische Ambulanz aufzusuchen. Sonst gibt es dazu nicht viel zu sagen.«
»Gut«, sagte Hultin aufrichtig. »Paul?«
»Ihr habt ja alle von Voultsos’ Aufenthalt im Grand gehört. Dreiundsechzigtausend hat er postum bezahlt. Oder eher sein Auftraggeber; Arto zufolge gehört das Konto dem Ghiottoneklan. Unter den übrigen Telefonnummern von und nach Slagsta habe ich nichts von Interesse gefunden. Die eingehenden Gespräche waren hauptsächlich von Freiern, die ausgehenden hauptsächlich von Finn Johansen, aber natürlich ein ›alias‹. Das Telefon der Freundin. Dann war da noch das mit den Erinnyen. Literarisch gesehen ist es verdammt spannend. Kennt ihr Aischylos?«
»Das Literarische erledigst du außerhalb der Arbeitszeit, nehme ich an«, sagte Hultin brutal.
»Selbstverständlich«, erwiderte Hjelm und fuhr unangefochten fort: »Im antiken Griechenland im fünften Jahrhundert vor Christus wetteiferte man in der Disziplin Tragödien. Die Tragödienverfasser schrieben drei Dramen, mit denen sie gegeneinander antraten. Sie nahmen Motive aus älteren Mythen, und die Tragödien pflegten zusammenzuhängen, als Trilogie. Eine vollständige Trilogie ist erhalten. Sie wurde vom ältesten der Tragödiendichter, Aischylos, geschrieben, und sie heißt Orestie. Das erste Drama heißt Agamemnon und handelt davon, wie der Anführer der Griechen im Trojanischen Krieg nach Hause zurückkehrt. Als Kriegstrophäe hat er eine Geliebte mitgebracht, eine Zauberin mit Namen Kassandra. Seine Ehefrau Klytämnestra hat sich ihrerseits einen Liebhaber zugelegt, und sie ermordet sowohl ihren Ehemann wie auch die unschuldige Geliebte. So endet es. Es hört sich ziemlich banal an, aber es ist verdammt noch mal das Giftigste, was je geschrieben worden ist. Okay, Teil zwei der Trilogie heißt Die Opfernden am Grab. Da ist Agamemnons und Klytämnestras Sohn Orest auf
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