Tiefer Schmerz
der Jagd nach der Mutter und ihrem Liebhaber. Die Ehre verlangt, daß er seinen Vater rächt. Blutrache. Könnt ihr folgen?«
»Tja«, sagte Hultin tastend.
»Und wie es sich gehört, rächt er den Vater und ermordet seine Mutter. End of part two. Nummer drei heißt Die Eumeniden. Weil er Blutschuld auf sich geladen hat, wird Orest von den furchtbarsten Wesen gejagt, die der Mythos aufzubieten hat. Sie kommen aus den ältesten Teilen des Totenreichs. Es sind die Rachegöttinnen, die Erinnyen. ›Wir sind die furchtbaren Töchter der Nacht, und Rachegeister heißen wir im Hades.‹ Sie holen Orest ein, doch als die Stunde der Rache schlagen soll, betritt Athene, die weise Göttin der Stadt Athen, die Bühne. In einem Gericht ersetzt sie die uralten Blutrachegesetze, die die Erinnyen antreiben, mit modernen Richtlinien, die der neugewonne nen Demokratie Athens würdig sind. Die Barbarei wird bezwungen, die Zivilisation siegt. Und die Erinnyen werden gezähmt. Sie werden der zivilisierten Gesellschaft einverleibt, indem ihnen eine ›ruhige und stille Zuflucht‹ angeboten wird. Das Zeitalter des Urzeitwütens ist vorbei. Nach den blinden, haßerfüllten alten Göttern übernehmen die jungen, vernünftigen das Regime. Und die Erinnyen werden Eumeniden. Machtlos, aber mit einem neugewonnenen, friedlichen Sinn. Zum erstenmal überhaupt.«
Hjelm sah sich in der Kampfleitzentrale um. Es sah tatsächlich so aus, als hörten sie ihm zu. »Wollen wir, daß dies hier so endet?« fragte er.
Es war eine Weile still. Er sah Kerstin an. Sie blickte zurück. Mit einem Blick, der seinem glich. Und der war sehr, sehr schwer zu deuten.
Am Ende sagte Hultin: »Liest du nicht auch etwas anderes?«
»Doch«, sagte Hjelm. »Leonard Sheinkmans Tagebuch. Aber das ist im Moment zu schwer. Ich möchte gern zu einem späteren Zeitpunkt darauf eingehen.«
»Zu schwer?«
»Zu schwer.«
»Aha, so«, sagte Hultin, ein wenig gelähmt in seiner Handlungskraft. »Nun, Gunnar?«
»Etwas Neues«, sagte Gunnar Nyberg. »Die Verhöre mit den Skinheads bestätigen Reine Sandbergs Darstellung der Ereignisse. Sie sind zum Jüdischen Friedhof gegangen, haben gesoffen und Grabsteine zerschlagen und nationalsozialistische Kampflieder gesungen. Da haben sie plötzlich den alten Mann entdeckt, der dahin kam. Obwohl er keine kleine Mütze auf dem Kopf trug, erkannten sie sofort, daß er ein alter Jude war. Sie hatten vor, zu ihm zu gehen und ihn zu ärgern, vielleicht ihn zu verprügeln. In diesem exaltierten Zustand sahen sie die schwarzen Gestalten herangleiten und wurden von solcher Panik gepackt, wie sie nur Menschen mit aufgeblasenem, eingebildetem Mut überfällt. Sie rannten weg wie die Hasen.«
»Und das Neue?« sagte Hultin neutral.
»Er blieb bei dem Grabstein stehen. Leonard Sheinkman blieb an ›Shtayfs‹ Grabstein stehen.«
»Ja!« platzte Chavez dazwischen. »Ich wußte es.«
Gunnar Nyberg fuhr ungerührt fort: »Als Sheinkman bemerkte, daß der Grabstein zerstört war, sah es aus, als finge er an zu lachen. Er bückte sich und strich über die Stücke. Da kamen die Gestalten. Sie lösten sich, diesem Burschen Reine zufolge, ›wie Rindenstreifen‹ von den Bäumen. Der Skinhead, der am längsten blieb, behauptet, sie hätten miteinander gesprochen. Sheinkman wechselte einige Worte mit den Gestalten. Vollkommen ruhig. Dann ging es unglaublich schnell, als sei der ganze Ablauf eingeübt.«
»Das war er«, sagte Kerstin Holm. »Es war das achte Mal. Mindestens. Wenn ich alles richtig auf die Reihe bekommen habe, fing es im März vorigen Jahres an. In Manchester. Im Juli war es Antwerpen, im Oktober Budapest, im Dezember Wiesbaden, im Februar Venedig, im März Maribor – und im Mai Stockholm. Skansen. Man kann sehen, daß das Tempo zunimmt. Sie werden immer geschickter. Es dauert zwei Monate, die Aktion in Stockholm vorzubereiten. Es gibt ja vieles, was koordiniert werden muß. Stockholm bedeutet eine Neuerung auf mehreren verschiedenen Ebenen. Eine Weiterentwicklung. Teils will man eine raffinierte Botschaft an die Ghiottone-Organisation in Mailand schicken. Teils will man noch einen Mann ermorden, eine ganz neue Kategorie: einen alten Professor. Diese Neuerungen sind beide rätselhaft. Warum einen Gruß nach Mailand schicken? Warum einen Mann ermorden, der normalerweise nicht das geringste mit Prostitution und Zuhältern zu tun gehabt haben kann? Will der Gruß an das Syndikat in Mailand sagen: Wir wissen, wer ihr seid, ihr habt noch
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