Tiefer Schmerz
nicht das letzte Wort von uns gehört?«
»Das ist wohl nicht ganz undenkbar«, sagte Paul Hjelm.
» Man hat vielleicht endlich eines der großen Verbrechenssyndikate lokalisiert, die dabei sind, sich die Kontrolle über den wachsenden Prostitutionsmarkt in Europa anzueignen. Jetzt geht man dagegen an. Und man will, daß sie das wissen.«
»Wir sagen die ganze Zeit ›man‹«, sagte Kerstin. »Ich auch. Aber es ist nicht wirklich ›man‹, der gegen Ghiottone vorgeht. Es ist ›frau‹. Doch das kann man kaum sagen. Der allgemeine Sprachgebrauch macht es fast unmöglich.«
»Und die Biologie«, sagte Jorge.
»Was sagst du da?« stieß Sara hervor.
»Ich habe heute morgen einen Diskussionsartikel von einem Forscher in Rechtspsychiatrie gelesen. Ihm zufolge hat die männliche Gewalt rein biologische Ursachen und hat nichts mit der Männerrolle zu tun. Er zeigt sogar ein Diagramm, auf dem eine Kurve die Konzentration von Testosteron im Blut beschreibt und eine andere die Anzahl gerichtlich verfolgter Gewaltverbrechen. Die beiden Kurven entsprechen einander bis ins Detail. Testosteron bringt Gewalt hervor. Kastrierte Männer haben eine verminderte Aggressionsbereitschaft. Die Evolution hat diese Aggressionsbereitschaft in die männlichen Erbanlagen plaziert, damit der Mann mit anderen Männern um Fortpflanzung und Nahrungsbeschaffung in Wettbewerb treten sollte. In allen bekannten Kulturen sind Männer zu allen Zeiten gewaltbereiter gewesen als Frauen. Alle Männer sind Gewalttäter, aber weil wir in erster Linie auf unser Eigeninteresse schauen, sehen wir ein, daß der Gebrauch von Gewalt in unserem Typ von Gesellschaft nicht zu positiven Auswirkungen führt. Also leiten wir unsere Gewaltbereitschaft auf andere, lohnendere Aktivitäten um, wie beispielsweise Sport.«
»Warte, bis wir nach Hause kommen, dann wirst du sehen, ob das wahr ist«, sagte Sara Svenhagen gewaltbereit.
»Ich referiere nur einen Artikel«, sagte Jorge Chavez kastriert. »Es ist interessant, daß derartige Gedankengänge tatsächlich unter angesehenen Forschern im Umlauf sind. Er bringt sogar Beispiele aus dem Tierreich. Ich habe geglaubt, so etwas wäre gründlich widerlegt. Nicht zuletzt von großen Spinnenweibchen, die ihre Miniaturmännchen gleich nach der Paarung töten.«
Kerstin Holm sagte:
»Biologismus besagt, daß der Mensch voll und ganz von biologischen Gesetzen gelenkt wird. Ökonomismus besagt, daß alles menschliche Handeln auf Gewinnstreben zurückzuführen ist. Zwei Wörter, die man sich merken sollte.«
»Es riecht ein ganz klein bißchen nach Schädelmessung«, sagte Hjelm. »Das rassenbiologische Institut in Uppsala.«
»Die Erinnyen«, sagte Holm. »Es ist ja interessant, daß die alten Griechen ihre gewaltbereitesten Urzeitwesen zu Frauen machten.«
»Also können unsere gewaltbereiten Erinnyen keine Frauen sein«, sagte Hultin neutral. »Umdenken.«
Sie betrachteten ihn. Er verzog keine Miene.
»Wollen wir versuchen, jetzt weiterzumachen?« sagte er schließlich. »Damit auch ein bißchen Arbeit erledigt wird.«
Kerstin versuchte, an ihren Gedankengang von vorhin anzuknüpfen. Am Ende gelang es ihr einigermaßen:
»Es ist möglich, daß die Aktion in Stockholm auch in einer dritten Hinsicht eine Neuerung beinhaltet. Wir haben keine Bestätigung erhalten, daß bisher irgendwelche Prostituierte rekrutiert wurden – denn es hat den Anschein, als passierte genau das, daß die Mädchen von Slagsta zur Basis in der Ukraine transportiert werden. Es kann also das erste Mal sein, daß dies geschieht; und falls es so ist, geht es darum, daß man anfängt, Prostituierte zu befreien. Es kann jedoch sehr gut schon vorher geschehen sein: der Überblick der europäischen Behörden über gefallene Frauen ist nicht immer beispielhaft.«
»Was für Frauen sind diese Erinnyen eigentlich?« sagte Viggo Norlander. »Es ist also nicht nur eine, die so gut trainiert ist wie die vom Odenplan, sondern es sind mindestens fünf?«
»Ich habe dennoch den Eindruck, daß sie die Anführerin ist«, sagte Kerstin Holm. »Sie hat Kontakt mit Slagsta, sie wird vom Bus in Lublin angerufen. Aber natürlich wirken sie gut trainiert …«
»Mindestens fünf auf dem Südfriedhof«, sagte Sara Svenhagen. »Dazu also noch mindestens eine im Bus, die, die angerufen hat. Reiseleiterin, sozusagen. Es ist eine ziemlich große Organisation.«
»Und ich glaube, daß sie größer und größer wird«, sagte Kerstin Holm. »Ja, Viggo, was sind das
Weitere Kostenlose Bücher