Tiefer Schmerz
lief der Film an.
Den Rest seines Besuchs in Marco di Spinellis Palast agierte er so, als spielte er Detektiv. Die ganze Zeit hörte er, wie seine schleppend coole Philip-Marlowe-Stimme das Geschehen kommentierte. »Es war einer von jenen Tagen, an denen ich mir lieber meinen rechten Arm abgehackt hätte, als aus dem Bett zu steigen.«
Die drei Männer – es widerstrebte ihm, sie die drei Weisen zu nennen – führten ihn durch Flure, die mit ihrer vollkommenen Schönheit brillierten. Zwischen den Männern auf dem Fußbodenniveau und den Stukkaturen an der Decke lag ein unendlicher Abstand – und nicht nur in Zeit und Raum.
Am Ende kamen sie in ein Vorzimmer, das nicht von schlechten Eltern war. Es war zwar höher als breit, aber dafür ein Wunder an gut renovierter Holzschnitzkunst. An einem Schreibtisch, der mit Sicherheit der Originaleinrichtung der Familie Perduto zuzurechnen war, saß ein schlanker Herr in dunklem Röhrenhosenanzug und mit einer Brille aus den fünfziger Jahren. Er sah aus wie Marcello Mastroianni in La dolce vita. Es war offenbar der Privatsekretär. Der Mann, der alles unter Kontrolle hatte. Einer der letzten der immer stärker von der Ausrottung bedrohten Art, die Computer überflüssig machen.
»Signor Sadestatt«, sagte er, rückte die Brille zurecht und streckte die Hand aus.
So sollte sein Name offenbar ausgesprochen werden. Wenn sonst nichts, dann war es wenigstens konsequent.
Signor Sadestatt streckte die Hand aus und nickte stumm; er war ja bereits vorgestellt. Der andere hatte offensichtlich nicht die Absicht, sich vorzustellen. Vermutlich sah er sich selbst nicht als Menschen, sondern als eine Funktion.
»Signor di Spinelli wird Sie in ein paar Minuten empfangen«, sagte die Brille. »Sie haben fünfzehn Minuten Zeit. Danach muß Signor di Spinelli leider nach New York reisen. Er hat sogar einen späteren flight genommen, um so kurzfristig noch im Stande zu sein, Sie zu empfangen.«
»Thank you very much«, sagte Signor Sadestatt und fühlte sich eingesülzt. Buchstäblich. Er lag in Sülze, und auf dem Glas war ein Deckel, durch den er nicht hinauskam.
Die Sekunden schienen Siesta zu halten. Sie bewegten sich zäh wie Sirup. Waren wie Sülze. Er lag darin und versuchte, sich zu bewegen. Die Bewegungen waren sehr langsam. Nach einem unbeschreiblich langen Zeitraum machte es plopp, der Deckel hob sich, er wurde herausgefischt, und alles war wie gewöhnlich.
Abgesehen davon, daß er mit einem italienischen Mafiaboß sprach.
Die Bilder hatten nicht gelogen. Marco di Spinelli trug wirklich ein sportliches schwarzes Polohemd mit einem niedrigen Rollkragen unter einem schwarzen Anzug vom absolut neuesten Schnitt. Söderstedt tippte auf Armani. Das Gesicht war zwar faltig, aber der Blick war nicht der eines Zweiundneunzigjährigen. Er war glasklar hellbraun und paßte außerordentlich gut zu dem frischfrisierten grauen Haar. Silberfuchs blieb ein angemessener Vergleich.
Konnte man mit zweiundneunzig wirklich noch alle Haare haben? War es physiologisch möglich?
Das Büro war unübertrefflich. Söderstedt hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen. Drei der Wände waren mit farbenfrohen Gobelins aus dem sechzehnten Jahrhundert behangen, die eine weitläufige paradiesische Landschaft mit Hirten und Hirtinnen, Schafen und Springbrunnen darstellten. Über einem offenen Kamin an der vierten und letzten Wand hingen zwei Gemälde, deren Stil Söderstedt bekannt war. Das erste, eine auf einer Mauer sitzende schöne Frau darstellend, mußte ein echter Leonardo sein. Das zweite, ein stilreines Doppelporträt, erkannte er als einen Piero della Francesca. Oberhalb dieser scheinbar lebenden sechshundertjährigen Gestalten wölbte sich die Decke in einer Reihe von Bögen, die mit höchster Wahrscheinlichkeit mit echtem Blattgold überzogen waren. In der Mitte der Decke gingen die Bögen in eine große Deckenkrone mit Tausenden von Kristallen in einer Vielzahl von Mustern über, die einander durchdrangen und ein raffiniertes, klirrendes Netz formten, denn der ganze Leuchter strebte nach oben, der Decke zu. Unter diesem goldenen Netzgewölbe, unter ebendieser beweglichen, blendenden Kristallkrone mußte der Ahnvater Perduto gesessen und durch das hohe, tief versenkte Fenster auf das Mailand des sechzehnten Jahrhunderts geblickt haben, während er den Gänsekiel über dem Tintenfaß ruhen ließ. Dann schrieb er mit leichter Hand und in zierlicher Schrift weiter an seinem geschliffenen
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