Tiefer Schmerz
Sonett.
Di Spinelli stand vor einer der gobelinbehangenen Wände, die Hand hinter dem Gewebe. In dem Wandteppich tat sich ein Spalt auf, und durch den Spalt war die nackte Steinmauer zu sehen. Ein häßlicher roter Knopf wurde an der Wand sichtbar. Marco di Spinelli hielt ihn gedrückt. Die klangreiche Fahrt der Kristallkrone zum Netzgewölbe der Decke war beendet. Der alte Mann mit dem markanten Profil ließ den Knopf los und streckte Söderstedt in einer stummen Begrüßung die Hand hin. Statt einer Vorstellung oder einer Begrüßungsformel waren Marco di Spinellis erste Worte: »Sind Sie sich dessen bewußt, Signor Sade statt, daß der Marquis Perduto an ebendiesem Tisch saß und seine berühmten Sonette an die kleine Amelia komponierte, die er im Alter von acht Jahren traf und nie zu vergessen vermochte?«
Die Stimme war trocken, das Englisch makellos. Mit edelbritischem Akzent.
»Das Konzept kommt mir bekannt vor«, sagte Arto Söderstedt und ließ sich in dem ihm angewiesenen Sessel vor dem Kamin nieder.
Marco di Spinelli kicherte leicht, goß ohne Umstände zwei kleine Calvados ein, stellte sie auf das Tischchen zwischen den Sesseln und setzte sich.
»So waren die Zeiten«, sagte er. »Der Petrarkismus grassierte in Europa. Alle schrieben Liebessonette an ein kleines Mädchen, das sie in der Kindheit getroffen zu haben und nie vergessen zu können glaubten. Eine Zeit der Massenpsychose. Ungefähr wie die jetzige. Don’t you agree?«
»In gewisser Weise«, sagte Söderstedt und nahm das Glas entgegen, das ihm jetzt hingehalten wurde. Er roch mit Kennermiene am Glas und sagte: »Ein Grand Solage Boulard, tatsächlich.«
Marco di Spinelli hob eine Augenbraue und sagte: »Sie sind ein Kenner, Signor Sadestatt?«
»Ich habe auf die Flasche gesehen«, sagte Signor Sadestatt.
»Ich weiß«, sagte di Spinelli.
»Das war mir klar«, sagte Söderstedt.
»Mir ist klar, daß es Ihnen klar war«, sagte di Spinelli.
Es hätte, mit anderen Worten, lange so weitergehen können.
Das Eis war auf jeden Fall gebrochen, und Söderstedt wußte ungefähr, wo er di Spinelli hatte. Da, wo er ihn erwartet hatte.
»Ich muß gestehen«, sagte der alte Silberfuchs, »daß ich eine Art von Schock bekommen habe, als sie eingetreten sind, Signor Sadestatt.«
»Das war Ihnen nicht anzumerken«, sagte Söderstedt.
»Sie erinnern mich nämlich an einen Menschen, den ich vor Ewigkeiten kannte, im Anbeginn der Zeiten.«
»Während des Krieges? Hatten Sie viel Kontakt mit blonden Männern während des Krieges?«
Marco di Spinelli lächelte bissig und sagte: »Lassen Sie uns zur Gegenwart kommen, weil ich ja leider andere Aufgaben habe, die auf mich warten. Daß man nie abschalten kann.«
»Dann will ich konkret werden«, sagte Söderstedt. »Ein Grieche mit Namen Nikos Voultsos hat das Kunststück fertiggebracht, sich in einem Zoo in Stockholm von Vielfraßen verspeisen zu lassen. Haben Sie davon gehört?«
»Ich habe davon reden hören«, sagte di Spinelli. »Ein merkwürdiges Schicksal.«
»Ich habe ein Foto von Ihnen beiden zusammen. Sie schütteln sich die Hand, und Sie, Signor di Spinelli, legen Ihre andere Hand auf Voultsos Schulter. Es sieht richtig gemütlich aus. Aber Nikos Voultsos war nicht gemütlich.«
Marco di Spinelli hob die Hände zu einer resignierenden Geste.
»Kommen Sie nur, um mir all das zu sagen, was die italienische Polizei schon hundertmal gesagt hat? Ich hatte gehofft, Sie wären vielleicht ein wenig … origineller …«
»Ich möchte lediglich wissen, wie Sie selbst die Tatsache erklären, daß Sie, ein ehrenwerter Bankier und Politiker, diesen mehrfachen Mörder und Gewaltverbrecher kennen.«
»Ich war zutiefst schockiert, als ich hörte, daß er ein Krimineller war. Wir sind uns zufällig eines Morgens in einem Café begegnet und haben uns unterhalten. Weiter geht meine Bekanntschaft mit diesem Mann nicht. Wie hieß er, sagten Sie? Valtors?«
»Exactly«, sagte Söderstedt und fuhr auf schwedisch fort: »Waldhorn.«
Der Alte betrachtete ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. Söderstedt fuhr fort: »Wie deuten Sie selbst die Tatsache, daß Nikos Voultsos von unbekannten Verbrechern direkt zu den Vielfraßen, ghiottone, getrieben und dort regelrecht hingerichtet wurde?«
»Wirklich?« sagte di Spinelli und sah überrascht aus.
»Schwedische Massenmedien sprechen von einem Unfall. Sie kommen doch nicht hierher und plaudern Dinge aus, die zufällig der Geheimhaltung unterliegen?«
»Es ist
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